Was mag den einst so erfolgreichen Startenor antreiben, mit 60 Jahren noch den Don José zu singen? In solchen Rollen verwaltet Neil Shicoff unter sicht- und vor allem hörbaren Qualen nur noch Fragmente seiner Stimme. Tonansätze wackeln, in Pianostellen muss er sich in die Kopfstimme retten, die Intonation ist stellenweise arg getrübt. Spitzentöne gelingen zwar im fortissimo, doch sind sie hart erkämpft und hoch gestemmt. Insgesamt wirkt er oft quäkend. In einigen Rollen - Eléazar zum Beispiel - und unter der Führung von guten Regisseuren hat er in letzter Zeit wenigstens durch eine intensive Darstellung berühren können. Doch sein José gestern in der Deutschen Oper Berlin wirkte steif und - man muss es leider sagen - alt. Und dieser Mann soll in knapp zwei Wochen in Zürich den Pinkerton in der neuen Butterfly Produktion singen?
Sein Gegenspieler Escamillo vermochte aber auch nicht zu überzeugen. Entweder liegt Stephen Bronk die Partie nicht, oder er hatte schlicht und einfach einen schlechten Abend. Weder Höhen noch Tiefen waren vorhanden, ja die Stimme brach sogar regelrecht weg. Dieses Manko vermochte er auch nicht durch eine darstellerisch für sich einnehmende Leistung zu kompensieren. Jedenfalls wurde es nicht einsichtig, weshalb er für Carmen dermassen begehrenswert sein sollte.
Diese Carmen war keine junge, feurige Zigeunerin. Nora Gubisch zeigte sie als Frau um die Vierzig, welche sich in erotische Abenteuer stürzen will, aber mit ihren noch vorhandenen Reizen etwas unbeholfen umgeht. Leichtes Wackeln mit den Hüften und sich ständig in die unbändigen Haare zu greifen, reicht nicht aus, um die Figur überzeugend darzustellen. An ihren vokalen Künsten allerdings gabs nichts auszusetzen. Ihr warmer, sauberer Mezzo klang sehr einschmeichelnd, es fehlte lediglich die Substanz in der Tiefe und die Erotik in der Stimme. Martina Welschenbach als Micaela erhielt den grössten Applaus. Für meinen Geschmack klang ihre helle, laute Stimme aber zu metallisch kalt für die Rolle des einfachen Bauernmädchens. Sehr gut hingegen Frasquita und Mercédès von Anna Schoeck respektive Julia Benzinger. Die kleineren Rollen waren adäquat -aber nicht mehr - besetzt. Für ein solches Haus eher an der unteren Grenze.
Die Produktion stand ja anlässlich der Premiere unter keinem guten Stern. Der für die Neuproduktion ürprünglich vorgesehene Regisseur Jürgen Gosch erkrankte schwer und starb dann. So wurde eine Inszenierung von Peter Beauvais aus dem Jahre 1979 ausgegraben und von Soeren Schuhmacher neu inszeniert. Allerdings muss man sagen, dass man noch selten eine dermassen langweilige, uninspirierte CARMEN gesehen hat. Da ist jede Aufführung einer Laienbühne spannender. Einige Seil springende Kinderchen reichen als Chorbewegung nicht aus. (Immerhin beeindruckte der Chor der Deutschen Oper durch vollen, schönen Klang.) Ansonsten Rampengesang von der schlimmsten Sorte.
Einzig die stimmigen Bühnenbilder von Pierluigi Samaritani und das Lichtdesign von Ulrich Niepel trösteten über diesen verlorenen Abend hinweg. Denn auch aus dem Orchester schwappte kein Esprit auf die Bühne über. Laurent Campellone sang zwar alles mit, scheint das Werk wirklich verinnerlicht zu haben, doch seine hölzerne Schlagtechnik führte zu einem stampfenden Gesamteindruck. Rasante Tempi sind noch lange keine Garantie für Ausdruckskraft, sie führen eher zu Unsauberkeiten in der Koordination. Zudem führte das jeweils vorzeitige Schliessen des Vorhangs dazu, dass das Publikum lautstark in die Aktschlüsse hinein applaudierte.
Eigentlich dürfte sich ein Haus dieser Grösse und dieses Renommees einen solchen Abend nicht leisten.
Für oper-aktuell: Kaspar Sannemann, 5.Oktober 09
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