Donnerstag, 9. September 2010

Luzern: PHAEDRA, 08.09.2010

Zeitgenössisches Musiktheater - mutig, engiert, anspruchsvoll: Und lohnend. Kritik der Premiere gibts hier!
„Ich muss fort von mir“ stellt Hippolyt im zweiten Akt von Henzes PHAEDRA fest. Er weiss nicht mehr, wer er ist, wo sich sein Platz in diesem Labyrinth fremder Begehrlichkeiten befindet. Henze und sein Librettist Lehnert machen es den ZuschauerInnen und ZuhörerInnen nicht leicht, sich in den Seelen dieser Menschen zurechtzufinden. Dass aus den sich in den Psychen von Phaedra und Hippolyt abspielenden inneren Dramen nicht ein oberflächlich-simpler Seelenstriptease geworden ist, hat man sowohl den klugen Autoren als auch der anspruchsvollen Inszenierung am Luzerner Theater durch Stephan Müller (Regie), Hyun Chu (Bühne) und Carla Caminati (Kostüme) zu verdanken. Die Zahl ZWEI spielt sowohl in der Konzeption des Werks als auch in deren Umsetzung in Luzern eine wichtige Rolle: Zwei Teile hat die Oper, zwei Göttinnen duellieren sich (Aphrodite und Artemis), zwei Figuren sind die Opfer ihres Machtkampfs (Phaedra und Hipployt), zwei Figuren treten gar nicht auf (Theseus und Poseidon), zweifach besetzt sind die Bläser, Mixturen aus zwei Stimmen prägen die Partitur. Stephan Müller hat nun auch noch die zwei Protagonistenpaare zweifach besetzt, jedem Sänger, jeder Sängerin quasi noch ein Schauspieler Double zur Seite gestellt. Damit erreicht er aber nicht mehr Verwirrung, im Gegenteil, er schafft Klarheit: Durch den Einbezug von Texten aus Euripides’ Drama und die Verdoppelung der Figuren mit Schauspielern (Katja Holm, Victor Moser, Daniela Britt, Marta Zollet) gibt er einerseits den SängerInnen mehr Raum und kreiert durch die perfekt einstudierte Synchronität von Bewegungsabläufen eine ausdrucksstarke, beinahe tänzerische Choreographie. Im ersten Teil spielt sich das Geschehen auf den Stufen eines stilisierten, goldenen Palastes ab. Requisiten sind praktisch keine von Nöten, Hippolyts Naturverbundenheit wird durch das Campieren angedeutet, die Kostüme sind schwarz für Artemis (sexy wie ein Lederkerl tritt Artemis auf) und Hippolyt, weiss und körperbetont für Aphrodite und von königlicher Bronze für Phaedra. Im zweiten Teil sehen wir den Palast wieder, diesmal allerdings verhüllt, als wären Christo und Jeanne-Claude am Werk gewesen; wir befinden uns nun in einer Kunstwelt, Hippolyt wird neu erschaffen – und bleibt doch der alte, immer noch seiner (seinem …) Artemis verfallen – die homoerotische Komponente der Beziehung der beiden lässt sich auch angesichts des äusserst attraktiven Sängers der Artemis nicht wegdiskutieren. Ein starkes Bild findet Regisseur Müller am Ende: Die zwei Protgonistenpaare und ihre Doubles verschlingen sich zu einem Knäuel und fallen beinahe explosionsartig wieder auseinander, die inneren sich widerstrebenden Gefühle zerreissen die Seelen, bevor dann der Minataurus auftritt und singt: „ ... wir dringen zur Sterblichkeit vor und tanzen.“ Die Gruppe erstarrt mit einem scheuen Winken – schwarzer Vorhang.
Henze hat es verstanden, eine Musik zu komponieren, welche stellenweise stark unter die Haut geht. Das Luzerner Sinfonieorchester setzt die stark Bläser lastige Partitur unter der umsichtigen Leitung von Mark Foster grossartig um. Olga Privalova verfügt als Phaedra sowohl über die notwendige Durchschlagskraft, wenn ihre zurückgewiesene Liebe in Hass umschlägt, als auch über feinnervig und tief empfunden gesungene Phrasen, wenn sich ihr Gewissen meldet und sie keinen anderen Ausweg ausser dem des Suizids mehr sieht. Genauso grossartig ist Utku Kuzuluk in der schwierigen Partie des Hipployt: Mit exemplarischer Diktion, hellem, in allen Lagen wunderbar leicht ansprechendem Tenor und der notwendigen Naivität in der Darstellung gestaltet er die Rolle des weltfremden, sich seinen eigentlichen Begehrlichkeiten nicht stellenden Jünglings. Sumi Kittelberger ist eine von Selbstbewusstsein nur so strotzende, ihre hohe Tessitura wie immer mühelos bewältigende Aphrodite und Yaniv d’Or als Artemis schaut nicht nur (wie erwähnt) verführerisch aus, er erweist sich auch als ebenso agiler Darsteller und seinen Counter wirkungsvoll präsentierender Sänger. Herrlich salopp kommt Boris Petronje mit seinem wohlklingenden Bass als Minotaurus am Ende zu seinem kurzen Auftritt.
Sicher, es ist kein kulinarisch leichter Abend, welchen uns das Luzerner Theater mit viel Mut und Engagement zum Saisonstart bietet – aber wer sich darauf einlässt, verlässt das Haus bereichert.
Fazit:
Das Luzerner Theater fasziniert mit einer szenisch und vor allem musikalisch packenden Wiedergabe von Henzes PHAEDRA: Eros und Keuschheit, Natur und Zivilisation, Liebe und Zurückweisung sind die beherrschenden Themen … Utku Kuzuluk, Olga Privalova, Sumi Kittelberger und der Countertenor Yaniv d’Or begeistern mit sängerischen Spitzenleistungen in ihren schwierigen Partien.
Inhalt:
Echos hallen durch das Labyrinth, in dessen Tiefen Theseus einst den Minotaurus besiegt hatte – Phaedra ist getrieben von Begehren nach ihrem Stiefsohn Hippolyt und Selbstekel – Sie versucht, sich umzubringen – Aphrodite (selbst in Hippolyt verliebt) hält Phaedra zurück – Hippolyt himmelt die Jagdgötttin Artemis an – Phaedra gesteht Hippolyt ihre Liebe – Er stössst sie entrüstet von sich – Phaedras Gefühle schlagen in Hass um – Hippolyt hört nur auf den Ruf der Artemis Phaedra schreibt an Theseus und verleumdet in diesem Brief Hippolyt (Vergewaltigung) – Artemis berichtet von Hippolyts Tod: Poseidon liess den zum Leben erweckten Minotaurus aus dem Meer steigen, Hippolyts Pferde scheuten und schleiften Hippolyt mit. Hippolyt erliegt seinen Verletzungen – Phaedra erhängt sich.
Artemis hat Hippolyts Leichnam nach Nemi in Italien gebracht – Sie erweckt ihn und sperrt ihn in einen Käfg – Phaedra, als Vogelwesen aus der Unterwelt verspottet Hippolyt als Haustier der Artemis – Aphrodite fordert Hippolyt für die Unterwelt, lockt ihn aus dem Käfig und versteckt ihn in einer Höhle – Phaedra versucht erneut, sich ihm zu nähern – Hippolyt weist sie ab und kämpft sich aus der Höhe – Hippolyt ist als Waldgott auferstanden – Was war, was wird?
Werk:
Hans Werner Henze gehört zu den meistgespielten Komponisten der Nachkriegszeit. In seinen Bühnenwerken verschmelzen oft klassische Stoffe mit zeitgenössischen Dichtungen, so fussen zum Beispiel seine erfolgreichen Opern Boulevard Solitude auf Manon Lescaut von Abbé Prévost, Die Bassariden (ebenso wie PHAEDRA) auf Euripides, Der junge Lord auf einem Märchen von Hauff, König Hirsch auf Gozzi und Der Prinz von Homburg auf einer Vorlage Heinrich Kleists.
Seinen Kompositionsstil könnte man als eklektizistisch beschreiben, d.h. Er biedient sich verschiedenster Stile und setzt sie neu und dramaturgisch passend zusammen. Gegen das rein Serielle hat er sich stets gewehrt, es erschien ihm zu elitär. Auch in PHAEDRA hört man neben Barockzitaten, lautmalerischen Effekten und sanften Streicherphrasen auch massiv distonierende, verstörende Elemente. Die Musik untermalt nicht nur das Geschehen auf der Bühne, sie kommentiert auch.
Henze hat sein bisher letztes Bühnenwerk im Alter von 80 Jahren geschrieben. Während der Komposition erlitt er einen schwerwiegenden Kollaps und wurde nach dem Spitalaufenthalt von seinem Lebensgefährten Fausto Moroni liebevoll gepflegt. Doch kaum war PHAEDRA fertiggestellt, starb Moroni im Alter von 63 Jahren.
Der Eros ist die stärkste Kraft im Leben eines Menschen – vermutete der antike Dichter Euripides und trat seinen Beweis mit einem Gegenbeispiel an: Hippolyt, der Sohn des griechischen Königs Theseus, führt ein keusches Leben und fordert damit Aphrodite, die Göttin der Liebe, heraus. Sie weckt in Phaedra eine wilde Leidenschaft zu ihrem Stiefsohn Hippolyt. Mit übermenschlicher Kraft kämpft die Königin gegen ihre heimlichen Gefühle, bis sie endlich ein Geständnis ablegt. Als der Geliebte mit Entsetzen reagiert, weiss Phaedra ihre Ehre nur noch mit dem Tod zu retten – und mit einer Verleumdung, die Hippolyt ins Verderben stürzt …
Dieser Stoff aus der griechischen Mythologie, vermutlich erstmals von Euripides dramatisiert, hat zahlreiche Autoren von Seneca über Jean Racine bis zu Sarah Kane in Bann geschlagen. 2006 schrieb Christian Lehnert mit deutlichem Bezug auf den Originalmythos ein Libretto, das mit den Figuren Phaedra und Hippolyt zwei Lebensphänomene exemplarisch gegenüberstellt: Selbstverlust und Autonomiestreben als existenzielle Erfahrung. Hans Werner Henze wiederum, mittlerweile ein Klassiker der Zeitgenössischen Musik, schnitt dieses gewaltige Stück Weltliteratur auf ein nuanciert charakterisiertes Gesangsensemble und ein virtuoses Kammerorchester zu, das vor allem mit Bläsern und Schlagwerk für ein farbenreiches, mitunter hartes, immer aber sinnlich-kantabel ausgestaltetes Klangbild sorgt. Kein Wunder folglich, dass die neueste Oper des Altmeisters bei ihrer Uraufführung 2007 an der Staatsoper Unter den Linden Berlin begeistert aufgenommen wurde.
Für art-tv und oper-aktuell: Kaspar Sannemann, 9. September 2010

Weitere Infos

Phaedra | Konzertoper in zwei Akten von Hans Werner Henze | Sprechtext aus der Tragödie «Hippolytos» von Euripides, Operntext von Christian Lehnert | Inszenierung: Stephan Müller | Musikalische Leitung: Mark Foster | Premiere: 9. September 2010 | Uraufführung: 6. September 2007 in Berlin | Aufführungen in Luzern: 9. | 12.9. | 18.9. *| 22.9. | 24.9. | 30.9. | 10.10. | 16.10. | 22.10.2010 | * Theatertag: Einheitspreis: Sfr. 39.00
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