Kritik von Uwe Schneider
Das Leben ist ein Wartesaal. Das Leben ist ein Leben der verlorenen Illusionen. Das Leben ist eine Jagd nach dem Glück. – Es sind die großen Leitmetaphern und Modethemen der Literatur des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts, die Andreas Homoki in seiner Berliner von Eugen Onegin anspricht.
Aktualität und Werktreue – kein Widerspruch
Die Adaption von Puschkins Versroman durch Tschaikowski, 1879 uraufgeführt, ist eines der Werke, das auf den Opernbühnen ästhetisch weitgehend festgelegt ist: zwischen Birkenwäldchen, nebliger Duellszene im Morgengrauen und rauschendem Fest. An der Komischen Oper haben Homoki und sein Ausstatterteam (Bühne: Hartmut Mayer, Kostüme: Mechthild Speidel, Licht: Franck Evin) das Stück nun in die Gegenwart geholt. Das Einheitsbühnenbild stellt einen Wartesaal mit Hartschalensitzen dar. Die handelnden Personen und der Chor sitzen dort, warten. Sie haben sich mit dem Status Quo abgefunden. Keine Initiative geht von ihnen aus. Dann stehen sie auf, so als wären sie aufgerufen worden und gehen ab. Eine anonyme, passive Masse als Gesellschaft. – Was das mit Tschaikowskis Oper zu tun hat? Viel, sehr viel. Denn die Geschichte um Onegin und Tatjana, um Lenski, Olga und Gremin, sie spielt in einer von Konventionen festgefahrenen Gesellschaft, einer, die sich den Regeln der Alten hingegeben hat, einer Gesellschaft, die nicht dagegen aufbegehrt. Bei Tschaikowski singen sie alle davon, die Alten, die Jungen und immer wieder der Chor. Man muß nur einmal genau hinhören, was da im Text steht. Man muß nur ernst nehmen was da in Liedform gekleidet ist: Das sind nur vordergründig harmlose Lieder von Bauern oder Ballbesuchern und das ist nur scheinbar ein harmloses Lied, das Olga zu Beginn singt. Die Texte handeln von Schmerz, Verlust und Perspektivlosigkeit.
Hier liegt die große Leistung dieser Inszenierung: Sie hat den Text endlich einmal ernst genommen, sie hat erkannt, dass der ‚Weltschmerz’ und die ‚Langeweile’ (noch zwei große Modethemen des 19. Jahrhunderts) die andauernd besungen werden, nicht atmosphärisches Kolorit sind, sondern Ausdruck einer Befindlichkeit der Gesellschaft. - „Der Traum vom großen Glück vergeht und daran gewöhnt man sich“, heißt es gleich anfangs im Quartett der Frauen. Davon handelt „Eugen Onegin“. Das ist der Zustand, den Tschaikowski und sein Librettist beschreiben. Das ist die Grundsituation, die Homoki inszeniert.
Tatjana ist anders. Sie leidet darunter. Sie hat sich eine Traumwelt errichtet, in die sie flüchten kann. Sie flüchtet in die Welt der Bücher – und bei Homoki auch in die Welt der Musik. Die großen, schwülstigen, süßlichen, emotionsgeladenen Themen der Partitur, sie stehen bei Homoki für Tatjanas Utopie der Liebe, die sie aus dem Stillstand der Gegenwart befreien soll. Sie sucht, „was nur die Liebe geben kann“, wie es im Text heißt. Olga hingegen, die Gegenfigur, singt in ihrem Lied des ersten Aktes unbewußt von ihrem Selbstbetrug („Was soll der Schmerz? Was soll die Sorge?“ und „Ich bin zufrieden“). Tatjana wird dagegen aufbegehren, sie wird die Initiative ergreifen. Wie groß dieser Schritt hin zur Initiative ist, zeigt die Inszenierung in der berühmten Briefszene, bei der Tatjana eben nicht nächtens und allein vor wallenden Vorhängen im Nachthemd ihre Liebeserklärung an Eugen Onegin schreibt, sondern dabei von ungläubig-neugierigen Frauen der Gesellschaft umgeben ist. Die Arie Tatjanas wird zur Szene. Für „kindisch und verliebt“ verkennt Onegin diesen „lächerlichen Brief“, wie er am Ende der Oper gestehen wird, wenn er sieht, wie sehr er die Dimension dieser Handlung Tatjanas verkannt hat. Denn Tatjanas Initiativwerden ist eine Geste des Bewußtwerdens der festgefahrenen Gegebenheiten.
Die Ablehnung durch Onegin ist für Tatjana das Schockerlebnis, das sie wortlos macht (sie entgegnet nichts mehr auf Onegins Ablehnung) und zugleich die Zerstörung all ihrer „Jungmädchenträume“ ist. Sinnfällig in Szene gesetzt durch die Zerstörung der Symbole ihrer Traumwelten: Brief, Buch, Musik. „So sind die Männer“, singen die Frauen im anschließenden Bild, in dem den Männern, die Blindekuh spielen, die Augen verbunden sind. Blind sind die Männer dieser Gesellschaft, so wie Onegin für Tatjanas Liebe blind ist. Die apathisch dasitzende Tatjana ist ein Fremdkörper in dieser Gesellschaft. Es sind einfache aber wirkungsvolle Chiffren, die Homoki in seiner Interpretation immer wieder findet, um die Zeitlosigkeit der Geschichte zu verdeutlichen. Dabei inszeniert er nie gegen den Text, sondern deutet ihn, befreit ihn aus seinem zeitgenössischen Korsett.
Onegin, der die Liebe zunächst nicht ernst nimmt und sich darüber lustig macht (1. Bild), wird in seinem verantwortungslosen Draufgängertum zum sinnlosen Duell mit Lenski kommen. Bei Homoki ein russisches Roulett, in dem sich Lenski mit einem Kopfschuß bewußt selbst richtet. Für Onegin, der sich danach aus Verzweiflung ebenfalls richten will, ist kein Treffer mehr übrig. Die sich anschließende Polonaise (die eigentlich die Einleitung des nächsten Bildes ist) wird mit dem wild um sich schießenden Onegin zum Totentanz, bei dem keiner sterben darf. Zu fest ist die Ordnung, zu vorausbestimmt die Schicksale. So wie Tatjana nicht in ihre Lebens-Zukunft eingreifen konnte, so kann es nun auch Onegin nicht in die seine. – In dieser passiven Gesellschaft ist es nicht mehr möglich auszubrechen, etwas zu verändern, so die deutliche – leider nicht von allen Zuschauern verstandene - Aussage.
Auch Tatjana hat sich dem ergeben, hat Gremin an ihrer Seite. Onegin hat seinen Fehler, nicht auf Tatjanas Liebeserklärung, die ein Ausbruchsversuch war, einzugehen, erkannt. Daher singt Gremin in seiner Arie zu Onegin: „Der Liebe kann man nicht entgehen“. Und bestätigt damit die utopische Chiffre der „Liebe“, von der bereits zu Beginn der Oper die Rede war: „Was nur die Liebe geben kann.“ Die Chiffre „Liebe“ wird damit als einzige Möglichkeit des Ausbruchs bestätigt. Und während Onegin das im Schlußbild mit Tatjana erörtert, nimmt kontrastierend dazu der Chor wieder seine vorbestimmten Positionen im ‚Wartesaal’ ein. Tatjana, die vergeblich ‚das Glück gejagt’ hat, wird sich mit ihren ‚verlorenen Illusionen’ schließlich dazugesellen, in der Masse untergehen. – Die Kunst des Interpretierens, Homoki führt sie vor.
Berlins bestes Opernensemble
Homoki und seinem Team ist eine ungewöhnlich schlüssige, werknahe und zugleich aktuelle Inszenierung gelungen. Dass sie am Ende ebenso auf Bravos wie auf Ablehnung stieß, mag ihr Potential zur Auseinandersetzung bestätigen. Konsequent knüpft Homoki an die genaue Lektüre der Texte und Partituren an, die an der Komischen Oper eine so große Tradition hat. Dabei gelingt es ihm seine Solisten zu Sängerdarstellern zu machen. Mit genauer Personencharakteristik und -führung entsteht eine überzeugende, fesselnde und kurzweilige Lesart des Onegin-Stoffes. Kyrill Petrenko am Pult und das fabelhaft spielende Orchester der Komischen Oper tragen das Konzept mit fiebriger Intensität mit. Petrenko setzt im Klang entschlackte, harte Passagen bewußt gegen das typische Tschaikowski-Melos. Die illusionslos klingenden, leeren Akkorde gleich zu Beginn bestimmen jedoch die Grundtendenz. Petrenko und seinen Musikern gelingen in diesem Kontrast grandiose Momente im Detail, etwa bei der kleinen Passage der Aufregung im Orchester, wenn Lenski das erste Mal auftritt oder das spannungsvolle, zum Orgelpunkt hin gedehnte Horn im Quartett der beiden Liebespaare im ersten Bild. Oder die intensive, aufwühlende Steigerung am Ende des zweiten Bildes mit dem großen Sehnsuchtsmotiv. Wie Schicksalsschläge klingen dann später die Paukenschläge mit ihrer harten Betonung der Eins im Walzer des vierten Bildes, bewußt irritierend das Blech in den Tänzen des sechsten Bildes. Sensibel findet hier ein wechselseitiges Zusammenspiel zwischen Interpretation auf der Bühne und Umsetzung der Partitur im Orchester statt. Vergessen ist der romantische Puderzuckerguß, der so gerne im Mißverständnis einer leidenschaftlichen Geste über Tschaikowskis Musik gegossen wird. Petrenko befreit Tschaikowski davon und zeigt, wie psychologisch die Partitur konstruiert ist und dass sie nicht atmosphärisches, illustratives Beiwerk, sondern eine Erweiterung des Ausdrucksspektrums der Vorgänge ist.Bei den Sängern kann die Komische Oper einmal mehr mit ihrem ausgezeichnetem Ensemble auftrumpfen, grandios sind die Stimmen aufeinander abgeglichen. Gabriel Suovanen, dessen Stimme im Parlando und im oberen Mittelregister an Hermann Prey erinnert, verleiht der Titelrolle stimmliche Ausstrahlung, gewinnt seinem warmen Kavalierbariton lyrisch-warme, später dann auch festere Töne ab. Große Textverständlichkeit ist bei ihm eine ebenso selbstverständliche Tugend, wie bei allen anderen Gesangssolisten. Die Tatjana Sinéad Mulhernws ist, wie bereits ihre Jenufa, ein darstellerisch wie vokal groß angelegter, sich entwickelnder Charakter. Sie mag nicht über das mächtige Organ russischer Kolleginnen in dieser Rolle verfügen, aber sie ist in ihrer Interpretation soweit in den Charakter und die vokalen Feinheiten der Partie eingedrungen, dass sie authentisch wirkt. Ihr lyrischer Sopran ist klar geführt, sicher in allen Regionen, beweglich im Überschwang der Briefszene, gemessen in den Szenen der Desillusionierung. Unbestreitbar ist sie der Mittelpunkt der Aufführung. Matthias Klink gestaltet mit kräftig strahlendem Tenor einen anrührenden Lenski, Hilke Anderens Olga hat eine volltönende Tief und eine angenehme Leichtigkeit in der Artikulation der Töne. James Creswell trumpft mit Baßgewalt und Gestaltungskunst auf und macht aus dem abgeleierten Wunschkonzerthit seiner Arie eine Charakterstudie. Diane Pilchers Filipjewna ist einmal mehr eine sensible Darstellung und souveräne gesangliche Leistung. Bei ihr und der Larina Gertrude Ottenthals nimmt man Gesangslinien wahr, die sonst gerne untergehen, da diese Partien meist von älteren Kolleginnen bestritten werden. Das Ensemble wird ergänzt durch den pointierten Triquet Christoph Späths. Großer, verdienter Jubel für das hohe Niveau der mitreißenden Sänger, den fulminanten, präzisen Chor und Petrenko mit seinem Orchester.
Einer der szenisch wie musikalisch gelungensten Abende der laufenden Berliner Opernsaison. Für alle, die von einer Opernaufführung mehr erwarten als nur die Bestätigung der Opernführerlektüre unbedingt empfehlenswert!
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