Diese CARMEN ist szenisch und musikalisch ein Ereignis; Weltklasse in Zürich mit dem beeindruckenden Rollendebüt von Vesselina Kasarova und Jonas Kaufmann als Don José!
„Gott! welch Licht hier!“, ist man – in leichter Abänderung eines Fidelio Zitats – versucht auszurufen angesichts der raffinierten Lichtgestaltung dieser Carmen-Produktion von Martin Gebhart. Von der grauen Morgendämmerung des Beginns, über die zunehmend schwüler werdenden Vormittagsstunden zur Abenddämmerung in der Kneipe von Lillas Pastia, von der Vollmondszene im dritten Akt zur gleissenden Mittagshitze auf der Plaza vor der Arena durchzieht ein ausgeklügeltes, schlüssiges Konzept diesen in allen Belangen stimmigen Abend. „Licht“ auch in der musikalischen Umsetzung mit dem mit grosser Spannung erwarteten Rollendebüt von Vesselina Kasarova in der Titelpartie. Jenseits von allen Rollenklischees IST die Kasarova Carmen, gleich einer unbezähmbaren Katze schmeichelt sie, stösst zurück, nähert sich beinahe schnurrend wieder an, um gleich darauf die kurzen Locken widerborstig zu schütteln, sie mokiert sich über beinahe alles und jeden, beharrt trotzig auf ihrem für sie so selbstverständlichen sexuellen Selbstbestimmungsrecht in diesem vom Machismo dominierten Umfeld. Die darstellerische Raffinesse geht einher mit der musikalischen: So subtil, so differenziert, so dunkel und tiefgründig, aber auch so blitzsauber (und blitzgescheit!) und trotzdem erotisch lodernd hat man Carmen wohl noch kaum je gesungen gehört. Nicht die bekannte Habanera oder die Seguedille wurden zu den Höhepunkten (obwohl auch diese makellos gesungen wurden), sondern die schwermütige Kartenarie im dritten Akt und die Schlussszene, die an Eindringlichkeit kaum zu übertreffen sein werden. Wie hier José und Carmen wie verwundete Raubkatzen um den Olivenbaum schleichen, sich einander annähern, sich vom bedrohlichen Flüsterton zum leidenschaftlichen Ausbruch steigern, der im Mord an Carmen kulminiert, wie sie den Todesstoss, obwohl erwartet, doch ungläubig, ja beinahe bewundernd entgegennimmt, das erzeugte Gänsehaut und war darstellerisch und gesanglich eine Glanzleistung der beiden Protagonisten. Zugleich zeigte sich da einmal mehr, wie genau Regisseur Matthias Hartmann die Personen zu führen vermag, wie sorgfältig er auf Musik und Text hört. Gleich einem spannenden Psychothriller läuft das Geschehen ab. Jede Figur ist exakt gezeichnet: Der grüblerische Student Don José in Polizeiuniform, der offensichtlich den falschen Beruf gewählt hat, wahrscheinlich seiner Mutter zuliebe, und sich in der primitiven Umgebung seiner sich an Pin-ups aufgeilenden Kumpanen sichtlich unwohl fühlt; die liebende, besorgte und doch mutige Micaëla (Isabel Rey, mit herrlich aufblühender Stimme in ihrer grossen Arie und im Duett), die den widerlichen Machos trotzt; ein Escamillo (Michele Pertusi, wunderbar präsent, höhensicher und kräftig), welcher auch ohne kitschiges Torerokostüm und billige Allüren für Carmen attraktiv ist; der schmierige Morales (Krešimir Stražnac), der dank seiner sonst meist gestrichenen Szene im ersten Akt Profil erhält; die Schmuggler Dancaïre (der wie stets attraktive aussehende und brillant singende Gabriel Bermúdez) und Remendado (Javier Camarena), die ihr machohaftes Gehabe genauso ausleben wie auf der Gegenseite Leutnant Zuniga (Morgan Moody); die Zigeunerinnen Frasquita (Sen Guo) und Mercédès (Judith Schmid). Sie alle sangen und spielten grandios, das Schmugglerquintett im zweiten Akt wurde so zu einer Sternstunde des Operngesangs.
Ein grosses Lob gebührt auch der Choreographin Teresa Rotemberg für ihre eindringlich gestalteten Massenszenen und Tänze. Der Chor, der Zusatzchor, sowie der Kinder- und Jugendchor des Opernhauses Zürich sangen und agierten bewundernswert!
Die von Volker Hintermeier gestaltete Bühne und die schlichten und doch so stimmig mediterran wirkenden Kostüme von Su Bühler liessen den Darstellerinnen und Darstellern genügend Raum für das intensive Spiel. Eine weisse, ovale Scheibe, welche nur für den dritten Akt mit einem dunkel gefleckten Belag versehen wurde und wenige Versatzstücke reichten vollkommen aus, um stimmungsvolle Bilder zu erzeugen. Der Souffleurkasten wurde für jeden Akt anders verhüllt: Im ersten Akt war es ein in der Hitze schlafender Hund, der aber zur Belustigung des Publikums auch mal mit dem Schwanz wedeln konnte, im zweiten Akt war es ein billiger Weinkarton, im dritten ein Felsbrocken und im vierten Akt schliesslich der Totenschschädel eines Stiers.
Franz Welser-Möst, mit seiner letzten Premiere als GMD, und das Orchester der Oper Zürich loteten die Partitur sehr genau aus, und doch wirkte alles äusserst organisch, wie aus einem Guss. Wunderbare Soli der Holzbläser, satter, warmer Klang der Streicher, rasante und stimmige Tempi sowie eine ausgezeichnete Balance zwischen Stimmen und Orchesterklang brachten Bizets meisterhaftes Werk zum Lodern. In den vergangenen Jahren hat man sich an die Dialogfassung der CARMEN gewöhnt. In Zürich spielt man diesmal eine auf der kritischen Neusausgabe durch Michael Rot beruhende Fassung des Werks, mit den von Guirod nachkomponierten Rezitativen. Damit umgeht man den Spannungsabfall, der durch hölzern gesprochene Dialoge entstehen könnte. Ein kluger Entscheid!
Das Publikum schien sich an diesem warmen Sommerabend zuerst an diese Lesart der CARMEN, die jenseits aller Postkartenidyllen ablief, gewöhnen zu müssen. Deshalb hielt sich der Zwischenapplaus wohl in Grenzen. Am Schluss aber erhielten alle verdienten Jubel. Am heftigsten gefeiert wurde Jonas Kaufmann als Don José. Das Porträt dieses vom unerfahrenen, verträumten Jüngling zum vor Eifersucht rasenden Liebhaber „gereiften“ Mannes überzeugte in all seinen differenzierten Schattierungen restlos. Sein sonst meist baritonal timbrierter Tenor klang eher heller und harmonierte wunderbar mit Kasarovas dunklem Mezzo. Der kultivierte Pianogesang, die ausdrucksstarken, nie unkontrollierten Steigerungen und die expressiven Phrasen in seiner grossen Arie La fleur que tu m’avais jettée zeigten die ganze Zerrisenheit dieser Figur. Welch ein Glück, diesen sympathischen Mann am Opernhaus Zürich zu haben, ihn in immer neuen Partien erleben zu dürfen.
Fazit:
Ein mitreissender, unter die Haut gehender Opernabend in traumhafter Besetzung.
Weltklasse!!!
Musikalische Höhepunkte:
Duett Micaëla – José: Parle-moi de ma mère, Akt I
Habanera der Carmen: L’amour est un oiseau rebelle, Akt I
Segeduille der Carmen: Près des remparts de Seville, Akt I
Couplets des Escamillo: Votre toast, je peux vous le rendre, Akt II
Blumenarie des Don José: La fleur que tu m’avais jetée, Akt II
Schmugglerquintett, Akt II
Kartenterzett Carmen, Frasquita, Mercedes, Akt III
Arie der Micaëla: Je dis que rien ne m’épouvante, Akt III
Schlussszene Carmen-José, Akt IV
Inhalt und Werk:
L’amour est un oiseau rebelle
Carmen ist der Traum aller Männerphantasien, voll impulsiver Sinnlichkeit und erotischer Anziehungskraft. Tagsüber arbeitet die Zigeunerin in einer Tabakfabrik, nachts verdreht sie den Männern in Lillas Pastias Kneipe am Rande der Stadt den Kopf. Geschickt wickelt sie die Männer um den Finger und lässt sie daraufhin eiskalt wieder abblitzen. Doch ihr alle Konventionen sprengender Freiheitsdrang wird ihr eines Tages zum Verhängnis. Als Carmen wegen einer Messerstecherei in der Tabakfabrik von Don José ins Gefängnis abgeführt werden soll, überredet sie diesen, sie laufen zu lassen, und verspricht ihm, für ihn allein in Lillas Pastias Kneipe zu tanzen. Von Carmen komplett in den Bann gezogen, wirft Don José alle seine moralischen Grundsätze über Bord, lässt das Andenken an seine Mutter und seine alte Jugendliebe Micaela hinter sich und stürzt sich in das Abenteuer mit Carmen. Auch Carmen scheint für einen kurzen Moment ihre wahre Liebe gefunden zu haben und will ihre Karriere als Schmugglerin an den Nagel hängen. Doch das Schicksal der beiden scheint bereits von Anfang an vorprogrammiert. Zu unvereinbar sind die beiden Lebensentwürfe. Don José, hin und her gerissen zwischen Pflicht und Leidenschaft, kann sich nicht zu einem Leben mit Carmen in Freiheit entschliessen. Statt dessen steigert ein feuriger Torero namens Escamillo seine Eifersucht ins Unermessliche, so dass der pflichtbewusste Sergeant schliesslich zum Mörder wird.
CARMEN ist Georges Bizets letzte Oper und zugleich sein grösster Publikumserfolg. Die Titelheldin steht als verführerische Femme fatale in der Tradition von Verdis Violetta und weist voraus auf Schönbergs Lulu. Schauplatz und Musik der Oper lassen das typisch spanische Kolorit erkennen. Doch Carmen ist mehr als eine folkloristische Ausstattungsoper. Es ist ein Stück über komplett unterschiedliche Lebensentwürfe und die fatale Verbindung von Liebe und Freiheit, Pflicht und Leidenschaft.
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