Freitag, 20. November 2009

Zürich: IL CORSARO, 22.11.09





Copyright aller Fotos Suzanne Schwiertz


Oper in drei Akten
Musik: Giuseppe Verdi
Libretto : Francesco Maria Piave
Uraufführung: 25. Oktober 1848 in Triest
Schweizerische Erstaufführung
Aufführungen in Zürich: 22.11. | 24.11. | 26.11. | 28.11. | 1.12. | 3.12. | 6.12. | 29.12.2009 | 1.1.2010
Infos und Karten

Kritik:
Ein spektakuläres Bühnenbild, bravouröse sängerische Leistungen und eine bezwingende Konzeption des Regisseurs machen diesen CORSARO zu einem hinreissenden Opernabend, welcher restlos begeistert.
Lange - allzu lange - hat man in Zürich auf eine rundum geglückte Verdi-Premiere warten müssen. Nun ist sie endlich da - und dies ausgerechnet mit einem Werk, welches viele Kritiker lange Zeit als mittelmässig abgeschrieben hatten, von welchem sich selbst der Komponist distanziert zu haben schien.
Verdi und sein Librettist haben sich in der Gestaltung des Dramas auf kurze, prägnante Szenen fokussiert. Somit blieb kaum Raum für differenzierte Charakterzeichnungen oder psychologische Entwicklungen, wie er sie in seinen reiferen Werken so meisterhaft darstellen konnte. Dies wirkt sich erschwerend auf die Umsetzung auf einer Bühne aus. Regisseur Damiano Michieletto siedelt das abenteuerliche Geschehen auf dramaturgisch schlüssige Art und Weise im Kopf des Dichters Byron an. Die kurzen Szenen wirken deshalb wie Traumsequenzen eines sich in seine eigenen Schriften hineinversetzenden romantischen Dichters, werden in eine effektvolle, sensationell bildgewaltige Sprache übersetzt. Durch die gigantische, schräg gestellte Spiegelwand, das den Ozean - und damit Trennung, Sturm und Drang - symbolisierende, die gesamte Bühne einnehmende Wasserbecken (Bühne: Paolo Fantin), die einmal mehr überragende, geradezu phänomenale Lichtgestaltung (Martin Gebhardt) und die das romantische Zeitalter stilisierenden Kostüme (Carla Testi) erhält der Abend eine flackernde, irisierende Prägung, eine beinahe albtraumhafte Spannung. Die aufwändige Bühnentechnik funktioniert reibungs- und vor allem erstaunlich lautlos, ein Riesenkompliment an die Werkstätten!
Vittorio Grigolo ist dieser an Don Quijote erinnernde Antiheld Corrado, der edle Lord Byron, der sich in jedes Abenteuer stürzt, für das Gute zu kämpfen glaubt und dann doch an seiner eigenen Feigheit im Grossen (Mord) wie im Kleinen (Liebe und Gefühl) scheitert. Er tut dies mit unglaublicher, strahlender Stimmkraft, meidet auch hochdramatische Ausbrüche nicht (Verzweiflungsanfall in der Kerkerszene) und trotz aller stimmlichen Potenz findet der Tenor immer wieder zu tragfähigem, kultiviertem Pianogesang. Klasse!
Gegensätzlich angelegt und äusserst stimmig besetzt sind die beiden in ihn verliebten Sopranistinnen: Einerseits die still und demütig liebende und leidende Medora, welche von Elena Mosuc mit blitzsauberen Fiorituren und samtweichem Tonansatz gesungen wird. Allein schon ihre mit wunderbar zart aufblühender Stimme interpretierte Romanze im ersten Akt ist ein Juwel. Sie macht im Verlauf des Abends keine Wandlung durch, liegt bei ihren beiden Auftritten auf dem grossen Bett, welches wie eine stille, in sich ruhende Insel ohne Ruder durch das aufgewühlte Wasser getrieben wird.
Andererseits ist da die Sklavin Gulnara; sie wird von Carmen Giannattasio mit dramatischerer, dunkler timbrierter Stimme, fulminanten Spitzentönen und herrlich geläufiger Kehle mit grandiosem Aplomb ausgestattet. Bereits ihr erster Auftritt innerhalb der an plastifizierte Spielzeugpuppen erinnernden Harmesdamen ist atemberaubend. Als einziger Figur billigt ihr Verdi eine Entwicklung zu. Sie zeigt ergreifend die Schattierungen dieser Frauengestalt, vom sanft intonierten Selbsmitleid in ihrer Auftritts-Cavatine bis zur leidenschaftlich Liebenden, von der Mörderin an ihrem Unterdrücker Pascha Seid zur am Schluss grossherzig Verzichtenden - eine Lady Macbeth mit Herz, welche trotz des Blutes an ihren Händen - das auch sie nicht wegkriegt - alle Sympathien gewinnt.
Der Bösewicht dieses Albtraums ist Pascha Seid. Der grosse Bariton Juan Pons stellt ihn mit wunderbarer Phrasierungskunst und leicht metallisch gefärbter Stimme dar. Überzeugend auch die Idee des Regisseurs, ihn zwar die hohlen, von religiösem Eifer geprägten Phrasen singen zu lassen, dabei aber die materielle Gier als eigentliche Triebfeder für sein Handeln in den Vordergrund zu stellen. So wird die Bigotterie des Grossindustriellen, der im zwischenmenschlichen wie im politischen Bereich nur den eigenen Vorteil sucht, herausgestrichen.
Aus dem Orchestergraben erklingen neben vielen, für den früheren Verdi charakteristischen Stereotypien, immer wieder wahre Preziosen: Da eine zauberhafte Kantilene der Klarinette oder der Oboe, dort eine traurig schöne, von Bratsche und Cello gespielte Einleitung (zum Beispiel zur Kerkerszene).
Eivind Gullberg Jensen und das herrlich satt spielende Orchester der Oper Zürich sowie der Chor der Oper Zürich verstanden es, sowohl diesen zarten Zwischentönen als auch den schmetternden, mitreissenden Rhythmen den ihnen gebührenden Raum zu geben.
Nachtrag: Am 1. Dezember 2009 besuchte ich IL CORSARO nochmals. Begeisterung wiederum sehr gross, wenngleich bei der Koordination Bühne/Orchester ein paar Abstriche gemacht werden mussten. Elena Mosuc hingegen war in noch blendenderer Verfassung als am Premierenabend.
Fazit: Unbedingt hörens- und vor allem auch sehenswert!
Inhalt:
Corrado, ein Edler, der sich den Piraten angeschlossen hat, erfährt, dass die osmanische Flotte vor Griechenland geankert hat. Er beschliesst, mit seinen Getreuen gegen den muslimischen Anführer Pascha Seid zu kämpfen. Corrados Geliebte Medora versucht vergeblich, ihn zurückzuhalten.
Gulnara ist die Favoritin in Pascha Seids Harem, doch sie verabscheut ihn.
Corrado bittet als Derwisch verkleidet um Schutz bei Pascha Seid. Die Korsaren haben unterdessen Seids Flotte in Flammen gelegt, das Feuer droht auf den Harem überzugreifen. Der Spion wird erkannt. Im darauf folgenden Gemetzel rettet Corrado Gulnara aus dem Harem. Doch die Flucht misslingt, er wird gefangen genommen und zum Tode verurteilt. Gulnara fleht Seid vergebens um Gnade an.
Corrado sinniert über Medoras Unglück. Gulnara will ihm zur Flucht verhelfen, doch er weigert sich vorerst. Gulnara ersticht Pascha Seid. Nun flieht Corrado mit ihr.

Medora hat aus Verzweiflung über den vermeintlichen Tod Corrados Gift getrunken, um wenigstens im Tod mit ihm vereint zu sein. Da trifft das Schiff mit Corrado und Gulnara ein. Medora vermag noch Gulnara für die Rettung ihres Geliebten zu danken, dann stirbt sie in seinen Armen. Corrado stürzt sich von den Klippen ins Meer. Gulnara bricht zusammen.
Werk:
IL CORSARO gehört zu den am seltensten aufgeführten Opern Verdis, sie stammt aus seinen so genannten „Galeerenjahren“, als er aus finanziellen Gründen pro Saison mindestens eine Oper zur Uraufführung bringen musste. Aus verschiedenen Gründen zog sich die Komposition jedoch in die Länge und Verdi hatte sich wohl innerlich bereits von dem Werk mit dem romantischen, aber auch abstrusen, auf Lord Byrons Gedicht THE CORSAIR basierenden, Libretto distanziert. Jedenfalls reiste er nicht zur Uraufführung nach Triest, die dann auch prompt ein Misserfolg wurde. Das Werk wurde bis heute kaum szenisch aufgeführt. Musikalisch jedoch weist es einige sehr schöne und für den frühen Verdi typische Einfälle auf: Dramatische Chorpassagen, fulminante Finali, stimmungsvolle Streichersoli, welche z.B. die Kerkerszene einleiten.

Musikalische Höhepunkte:
Si, de corsari il fulmine, Arie mit Chor, Corrado, Akt I
Non so le tetre immagini, Romanze der Medora, Akt I
Vola talor dal carcere...Ah conforto, Cavatina der Gulnara, Akt II
Salve, Allah, Seid mit Chor, Akt II
Resta ancora, Finale Akt II
Eccola...fingasi..Sia l'istante maledetto, Duett Gulnara-Seid, Akt III
Eccomi prigioniero, Kerkerszene Corrado-Gulnara, Akt III 
Per me infelice, Terzett Medora, Corrado, Gulnara und Finale Akt III

Für oper-aktuell: © Kaspar Sannemann, 23. November 2009


 

Mittwoch, 11. November 2009

Zürich: Galaabend 175 Jahre Opernhaus (Actientheater), 10.11.2009


Am 10. November 1834, vor genau 175 Jahren, wurde das Zürcher Actientheater mit Mozarts ZAUBERFLÖTE eröffnet. Mutige Zürcher Bürger aus verschiedensten weltanschaulichen Richtungen hatten dieses Theater, das im ehemaligen Barfüsserkloster an den Unteren Zäunen seinen Platz gefunden hatte, im zwinglianischen Zürich ins Leben gerufen, ein Unterfangen nicht ohne Risiko. Bis heute - und das ist europaweit wohl einmalig - wird dieses Haus durch seine wechselvolle Geschichte hindurch von den Bürgerinnen und Bürgern dieser Stadt, dieses Kantons getragen, wird es an der Urne regelmässig unterstützt, so beim grossen Umbau (welcher auch zu den Opernhauskrawallen und damit im Nachhinein zur verstärkten Förderung der Alternativkultur führte) oder bei der Kantonalisierung. Deshalb ist die Gravur in der Fassade des Hauses Durch Bürgergunst geweiht der Kunst mehr als stimmig.
Zudem spielt das Haus - auch das im europäischen Vergleich einzigartig - ungefähr 45% seines jährlichen Budgets selbst ein, sei es an der Kasse oder durch Sponsoring. Heute steht das Haus zwar auf 1800 Pfählen am Seeufer (1890, nach dem Theaterbrand des alten Hauses in Rekordtempo aufgebaut), aber doch dank der Kantonalisierung auf ziemlich gesichertem finanziellem Fundament.
Der Zürcher Regierungsrat in corpore, ein Bundesrat und weitere mehr oder weniger Prominente füllten gestern Abend das Opernhaus anlässlich dieser Galavorstellung. Sämtliche Künstlerinnen und Künstler verzichteten auf die Gagen zugunsten der Nachwuchsförderung, welche in Zürich mit dem Internationalen Opernstudio, der Orcheterakademie und der Ballettakademie grosse Beachtung findet. Hausherr Alexander Pereira rechnet mit Einnahmen von rund SFR 300'000 an diesem Abend.
Viele Sängerinnen und Sänger, welche dem Opernhaus zum Teil seit Jahrzehnten treu verbunden sind, gaben sich die Ehre. Nach den Begrüssungsworten durch den Verwaltungsratspräsidenten Josef Estermann und der launigen, informativ-humorvollen Rede der Regierungsratspräsidenten Regine Aeppli begann der Abend musikalisch mit der Ouvertüre zu Mozarts NOZZE DI FIGARO - und mit dem Finale des 2. Aktes aus eben dieser Oper endete er dann auch - alle Beteiligten versammelten sich anschliessend noch auf der Bühne zum Feuerstrom der Reben aus der FLEDERMAUS.
Die eindrücklichsten musikalischen Erlebnisse waren Matti Salminens Auftritt mit dem grossen Monolog aus BORIS GODUNOW. Seit beinahe vier Jahrzehnten gehört der finnische Bass zum Zürcher Haus. Als Boris setzt er immer noch Massstäbe. Agnes Baltsa kam 1976 erstmals nach Zürich, geholt vom damaligen unvergessenen Intendanten Claus Helmut Drese. Die Baltsa und Neil Shicoff spielten und sangen beinahe den gesamten 4. Akt aus CARMEN, immer noch ist die Baltsa ein begeisterndes Bühnentier. Auch Shicoff zeigte sich an diesem Abend in stimmlich hervorragender Verfassung.
Ein anderer Zürcher Liebling, José Cura, durfte den Hit Nessun dorma aus TURANDOT in den Saal schmettern. Er tat dies mit dem Charme des Latin Lovers und seinen humoristischen Einlagen, welche allerdings nicht alle im Saal für angebracht hielten.
Jünger, aber mit ebensoviel Charme und unbeschwerter Freude am Singen dann der neue Stern am Tenorhimmel, Vittorio Grigolo: Er sang zwei Arien aus RIGOLETTO, das La donna è mobile mit kraftvollem hohem H, wenn auch etwas kurz gehalten für einen Galaabend.
Michael Volle begeisterte mit der so genannten Champagner-Arie aus DON GIOVANNI und im starken Zürcher Mozart Ensemble als Graf zusammen mit Judith Schmid (Cherubino), Ruben Drole (Figaro), Malin Hartelius (neben der Gräfin sang sie auch noch eine berührende Arie der Pamina) und Isabel Rey als quirliger Susanna. Frau Rey bot auch einen beschwingten Musetta Walzer aus Puccinis LA BOHÈME dar, obwohl sie dabei von Vladimir Fedoseyews Dirigat am Pult des - ansonsten gut aufspielenden Orchesters - etwas im Stich gelassen wurde. Weitere Lieblinge des Zürcher Publikums (Emily Magee, Elena Mosuc und Juan Pons) glänzten mit Szenen aus TOSCA und RIGOLETTO, der prächtig auftrumpfende Chor des Opernhauses mit Va, pensiero aus NABUCCO.
Vor der Pause folgte dann noch das Schlussbild aus dem Ballett RAYMONDA, ein Werk, das gegenwärtig auf dem Spielplan steht und das man nicht verpassen sollte.
Hausherr Alexander Pereira führte mit sympathischer Nervosität und selbstironisch kommentierten Patzern durch den über dreistündigen Abend.
Ein grosses Kompliment gebührt den GestalterInnen und AutorInnen der Festschrift. Zu Recht wird darin auf die zahlreichen Uraufführungen hingewiesen, welche in Zürich über die Bühne gingen. Und hier muss ich auch eine leise Kritik anfügen: Aus keinem dieser wichtigen Werke war an diesem Abend etwas zu hören, kein Sutermeister, kein Busoni, kein Alban Berg, kein Schönberg, kein Klebe, kein Hindemith, kein Holliger oder Kelterborn oder - aus jüngerer Zeit Rushton. Das ist ausserordentlich zu bedauern. Wird das Zürcher Publikum denn für dermassen beschränkt gehalten, dass man ihm anlässlich einer Gala nur Werke von Mozart bis Puccini zumuten kann? Und wenn ja, dann hätte sich wenigstens eine der in Zürich uraufgeführten Operetten von Stolz, Léhar, Oscar Straus oder Victor Reinshagen als Zückerchen angeboten ...
Nicht einmal die in den letzten Jahren so erfolgreich gepflegte Händel Renaissance erfuhr eine Würdigung. Falls sich keiner der Stars zu einer Szene aus einer Oper des 20. oder 21. Jahrhunderts hätte überreden lassen, wäre dies die Möglichkeit gewesen, jemanden aus dem Opernstudio damit zu betrauen. Diese Chance wurde leider vertan.

Für oper-aktuell: Kaspar Sannemann, 11. November 2009

Montag, 9. November 2009

Frankfurt a/M: DIE FRAU OHNE SCHATTEN, 7.11.2009





Kurzkritik:
Musikalisch kann man sich FRAU OHNE SCHATTEN heutzutage besser kaum vorstellen: Das beginnt bei der mit immenser Gestaltungskraft und grossartiger Mimik agierenden Caroline Whisnant als Färberin, setzt sich über die phänomenal singende, auch fortissimo Ausbrüche in den höchsten Lagen nicht scheuende Silvana Dussmann fort und kulminiert bei der textverständlich und ausdrucksstark singenden und sich nie in Sprechgesang oder hässliches Schreien flüchtenden Amme von Tanja Ariane Baumgartner. Nur schon diese drei grossartigen Frauenstimmen machen die Aufführung in Frankfurt zum Ereignis. Doch auch Michael König als Kaiser und Terje Stensvold als gutmütiger Barak brauchen sich hinter den Damen nicht zu verstecken. Die kleineren Rollen sind mit Christiane Karg (Hüter/Falke) und Johannes Martin Kränzle als Geisterbote ebenfalls überdurchschnittlich gut besetzt. Sebastian Weigle dirigierte eine Fassung, die beinahe ohne Striche auskam, was sehr begrüssenswert ist. Zwar vermochte er im ersten Akt einigen Koordinationsproblemen und verwackelten Einsätzen nicht zu entkommen, doch insgesamt spielte das Frankfurter Opern- und Museumsorchester ganz hervorragend auf. Sehr verdienstvoll von Seiten des Dirigenten war, dass er die Stimmen nie in den Klangfluten ertränkte, wie das leider oft geschieht. So blieb die Balance zwischen Graben und Bühne stets gewahrt, instrumentale Solopassagen leuchteten herrlich auf.
Christof Nels eindringliche Personenführung im kargen Betonbunker von Jens Kilian und den an Baby Jane erinnernden Kostümen von Ilse Welter schufen eine Welt der Einengung, der Bedrückung. Kaiserin und Färberin kamen sich so auch äusserlich immer näher, beiden war es verwehrt erwachsen und selbständig zu werden, sie blieben Kindfrauen. So ist dann das Ende auch kein glückliches. Die beiden Paare sind zwar zusammen, doch gefangen im Bunker. Der Blick der beiden Damen schweift sehnsuchtsvoll in die Ferne ...

Basel: AUS EINEM TOTENHAUS, 8.11.2009




Oper in drei Akten
Musik: Leoš Janáček
Libretto: vom Komponisten, nach Dostojewskis Dokumentarroman
Uraufführung: 12. April 1930 in Brünn
Aufführungen in Basel: 8.11. |10.11. | 14.11. | 22.11. | 30.11.2009 | 10.1. | 27.1. | 5.2. | 13.2. | 17.2. | 19.2.2010


Kritik:
Mit brutalem, gnadenlosen Realismus zeigt Regisseur Calixto Bieito die Hölle dieses Gefangenenlagers; ein Hölle, die sowohl durch den Umstand des Freiheitsentzugs als auch - frei nach Sartre - durch die Andern, die Mithäftlinge, den Kommandanten und seine Schergen entsteht und der keiner entfliehen kann. Die unerbittliche Ausweglosigkeit dieser unmenschlichen, von schreiender Ungerechtigkeit erfüllten, durch Menschen verursachten Situation, welche zu Tod, Mord, Wahnsinn, Korruption und sexuellem Missbrauch führt, wird in der Basler Neuinszenierung ungeschönt, aggressiv und direkt dargestellt. Bereits beim Fussballspiel im Gefängnishof, zu der vom Sinfonieorchester Basel so eindringlich gestalteten Ouvertüre, sind die kommenden Gefühlsschwankungen zwischen Freude, Wut, Verzweiflung und Aggression passend zu den unterschiedlichen musikalischen Motiven angelegt.
Für Emotionen oder Mitgefühl bleibt in diesem Lager, das überall stehen könnte, praktisch kein Platz, und wenn Gefühle dann doch einmal kurz aufschimmern, wie in der Zuwendung des politischen Häftlings Gorjantschikow zum von zwei Wachmännern vergewaltigten Alej, werden sie durch Todesschüsse gleich wieder zum endgültigen Verstummen gebracht. Wenn man dieser Inszenierung einen Vowurf machen könnte, dann den, dass jegliche Menschlichkeit gleich abgewürgt wird. Von den göttlichen Funken in jedem Menschen ist kaum etwas zu spüren, selbst der Appell des alten Sträflings „Auch ihn hat eine Mutter geboren“ verhallt ohne Echo. Selbst das Osterfest und die anschliessenden, von unterdrückten sexuellen Wünschen durchsetzten Pantomimen enden nach dem orgiastischen Tanz in Vergewaltigung und Massenhinrichtung.


Janáčeks sperrige letzte Oper erfährt in Basel eine Wiedergabe von allergrösster szenischer und vor allem auch musikalischer Intensität. Sämtliche Sänger (es sind nur Männer, auch die einzige weibliche Rolle, eine Dirne, wird in Basel von einem Mann dargestellt) verschreiben sich mit jeder Faser ihres Körpers und ihrer Stimme den geforderten Rollen, zeichnen ergreifende Psychogramme ihrer Figuren. Sie singen und spielen mit überwältigender Eindringlichkeit, bis zur Selbstentblössung: Rolf Romei als Skuratow, der immer mehr die Gestalt seiner geliebten Luisa annimmt, Claudio Otelli als Schischkow, der seinen langen Monolog zu einem grandiosen Moment des Abends werden lässt oder Eung Kwang Lee, der so ergreifend seine Hilflosigkeit zeigt, als sein Geliebter Alej (anrührend: Fabio Trümpy) blutüberströmt nach dem sexuellen Missbrauch durch die Schergen in seinen Armen liegt. Ludovit Ludha als Filka und KarlHeinz Brandt als Schapkin ergänzen überzeugend das Ensemble der Gefangenen. Auf der andern Seite agieren Andrew Murphy und Erlend Tvinnereim mit krasser, menschenverachtender Brutalität als Platzkommandant und Wache.
Die karge Bühne von Calixto Bieito und Philipp Berweger, mit dem Doppeldecker (anstelle des Adlers im Libretto) als Symbol der Hoffnung und der Freiheit und die durch Ingo Krügler so treffend entworfenen Bekleidungen tragen das ihrige zur stimmigen Umsetzung des Dramas bei. Sie unterstreichen damit gekonnt die Kargheit der Musik und fokussieren den Blick des Zuschauers auf die Abgründe und die Hölle, durch welche die Gefangenen gehen müssen.


Ein ganz besonderes Lob gebührt der Maskenbildnerei des Basler Theaters. Wie die Abgestumpftheit, die Aggression, die Wut und die psychischen und physischen Verletzungen in den Gesichtern der Gefangenen zu erkennen sind, zeugt von grösster Professionalität.
Das Sinfonieorchester Basel unter der einfühlsamen Leitung von Gabriel Feltz  evoziert die expressionistischen Klänge mal mit feiner, dann wieder kräftig herber Klangmalerei.

Fazit:
Janáčeks letzte Oper erfährt in Basel eine musikalische und szenische Wiedergabe, die niemanden unberührt zurücklehnen lässt - gnadenlos und hart, aber mit ergreifender Kraft.

Werk:
Leoš Janáček - neben Puccini und Richard Strauss der meistgespielte Komponist des vergangenen Jahrhunderts - schuf mit seiner letzten Oper zugleich eines der ungewöhnlichsten Werke des 20. Jahrhunderts. Als Vorlage diente dem Komponisten Dostojewskis autobiografisch gefärbter Roman, in welchem Dostojewski eigene Erlebnisse als Häftling im Gefängnis von Omsk verarbeitete. Leoš Janáčeks formte die Vorlage unter Verwendung von zum Teil wortgetreuen textlichen ?bernahmen in eine bewegende Oper ohne klar durchgehende Handlung um. Als Motto schrieb Janáček über seine Partitur: In jeder Kreatur ein Funke Gottes.
Die Ouvertüre war zuerst als Violinkonzert (mit dem Titel Wanderung einer Seele) konzipiert.
Die für Janáček so typischen, minimal gehaltenen Motive, die rhythmischen Ostinati und herb, aber transparent klingenden Akkordschichtungen und die reine Männerbesetzung verleihen dem quer zur Operntradition stehenden, schwer verdaulichen Werk eine Ausnahmestellung.

Inhalt:
Ort: Ein Strafgefangenenlager, z. B. in Sibirien
Den Rahmen der Oper bildet die Einlieferung des aus politischen Gründen verhafteten Gorjatschikow, der sich mit dem jungen Häftling Aljeja anfreundet, und seine überraschende Entlassung am Ende der Oper. Dazwischen erfährt man in längeren und kürzeren Monologen von Einzelschicksalen, Hoffnungen und Enttäuschungen der Mitgefangenen, erlebt die Brutalität, mit welcher die Aufseher die Häftlinge traktieren, nimmt an einem Osterfest und an einem Theaterspiel im Lager teil und begreift, warum einigen Insassen nur noch der Weg in den Wahnsinn bleibt. Ein brutal klingender Marsch ruft die Gefangenen am Ende der Oper wieder zur Arbeit und setzt einen unversöhnlichen Schlusspunkt.


Für oper-aktuell und art-tv: Kaspar Sannemann, 9. November 2009

Sonntag, 1. November 2009

Zürich: RAYMONDA, 31.10.2009


Ballett in drei Akten (in Zürich zwei Akte, vier Bilder)
Musik: Alexander Glasunow
Choreograph der Uraufführung: Marius Petipa
Uraufführung: 7. Januar 1898 in St. Petersburg
Aufführungen in Zürich:
31.10.| 1.11. | 7.11. | 8.11. | 14.11.| 15.11. | 25.11. 2009 | 10.3. | 14.3. | 18.6. 2010
Infos und Karten

Kritik:
Einmal mehr verzaubert Heinz Spoerlis Balletttruppe durch ihre Vielseitigkeit, ihre Perfektion und und ihre unglaubliche Musikalität. Eben noch begeisterten die Tänzerinnen und Tänzer mit Choreographien von Twyla Tharp und Hans van Manen, nun beweisen sie sich in einem der grossen Klassiker des spätromantischen Repertoires, Glasunows RAYMONDA.
Heinz Spoerli hat die Geschichte von den pantomimischen, heutzutage wahrscheinlich peinlich wirkenden Zutaten entschlackt. Er legt den Fokus überzeugend auf die Geschichte eines Teenagers, welcher durch die Entdeckung der Liebe und der Erotik quasi über Nacht zur jungen Frau reift. Die umjubelte junge Primaballerina Aliya Tanykpayeva ist Raymonda, sie ist dieser zu Beginn kichernde Backfisch, welcher am Ende des Abends Begehren und sexuelles Verlangen durch den Sarazenen Abderachman erfahren und dann doch (vorläufig …) in den starken Armen des Ritters Jean de Brienne Sicherheit gefunden hat. Von ätherischer Leichtigkeit durchflutet ist ihr erstes Solo, das Pizzicato, so wundervoll funkelnd begleitet von Harfe und Flöte. Hin- und hergerissen zwischen den beiden starken Männern zeigt sie sich im zweiten Bild, im grossen Adagio, einem Pas de trois, diesmal wunderbar einschmeichelnd begeitet von der Solovioline. Als ihr tänzerischer Höhepunkt und pièce de résistance dann gegen Ende des grandiosen Abends die von zarter Wehmut erfüllte 5. Variation, mit perfekter Fussarbeit brillant auf der Spitze getanzt. Das umstrittene Händklatschen wurde nur einmal leicht angedeutet. Diese junge Tänzerin hat begeistert und in Erstaunen versetzt. Es ist ein grosses Glück, sie im Zürcher Ballett erleben zu dürfen.

Stanislav Jermakov als Jean de Brienne war ihr ein sicherer Partner. Dadurch, dass Spoerli jedoch den Sarazenen Abderachman (Vahe Martirosyan) viel früher als gewohnt ins Spiel bringt und dessen Rolle aufwertet, muss Jermakov gegen die Virilität und die starke erotische Ausstrahlung des Sarazenen auf beinahe verlorenem Posten ankämpfen. Erst in seinem grossen Solo nach dem Pas hongrois kann er zeigen, dass seine Sprünge ebenso raumgreifend und kraftvoll sind wie jene von Vahe Martirosyan. Und doch versteht man, dass Raymonda von Abderachman, von dessen offen zur Schau gestellter Erotik, welche leicht in fordernde Brutalität kippen könnte, mehr und mehr angezogen wird. Da Abderachman beim Duell nur verwundet wird, bleibt offen, ob die Beziehung mit Jean eine von Dauer sein wird. Auch dadurch wirkt Spoerlis kluge Arbeit wieder sehr zeitgemäss. Aufgewertet hat Spoerli auch die Rollen der Freunde Raymondas. Kein Wunder angesichts der Tatsache, dass er zwei so erstklassige Tänzer wie Arsen Mehrabyan (Bernard) und Arman Grigoryan (Béranger) mit ihren ebenfalls hervorragenden Partnerinnen Vittoria Valerio (Clémence) und Galina Mihaylova (Henriette) zur Verfügung hat. Sarah-Jane Brodbeck verleiht der weissen Dame wunderbar das sie umgebende Geheimnisvolle, Schwebende. Die spannend, virtuos und abwechslungsreich choreographierten Walzerszenen und die mit selbstverständlicher Perfektion vom herausragenden Corps dargebotenen ungarischen Tänze und Galops sind weitere Höhepunkte dieses durch und durch stimmigen Abends. Unterstrichen wird die Handlung durch die in dezenten Farben gehaltenen Kostüme und das unaufdringliche, liebevolle Bühnenbild von Luisa Spinatelli.

Aber nicht nur was auf der Bühne abläuft ist Weltklasse. Ebenso grosse Aufmerksamkeit verdient das Orchester der Oper Zürich unter Michail Jurowski, der mit diesem Dirigat einen begeisternden Einstand in Zürich gibt. Wie der Dirigent mit der farbenreichen Musik mitlebt, ihr schwärmerisches, melancholisches und mitreissendes Potential herausarbeitet, die Kantilenen wunderbar warm fliessen lässt, seine Begeisterung direkt auf die in allen Instrumentengruppen herausragend spielenden MusikerInnen überträgt, ist einmalig. Hoffentlich wird diesem Maestro bald einmal die Einstudierung einer Oper in Zürich anvertraut.
Fazit:
Ein romantisches Handlungsballett in der meisterhaften Handschrift von Heinz Spoerli, hinreissend und mit überragender Virtuosität dargeboten vom Zürcher Ballett und phänomenal begleitet vom Orchester der Oper Zürich unter Michail Jurowski.
Inhalt:
Eine junge Frau (Raymonda) entdeckt die Liebe: Obwohl sie mit dem Ritter Jean de Brienne verlobt ist, fühlt sie sich während dessen kriegsbedingter Abwesenheit zum sarazenischen Fürsten Abderachman hingezogen. Traumwelt und reale Wunschvorstellungen vermischen sich. Eine geheimnisvolle „Weisse Dame“ bewirkt einen Zweikampf zwischen den beiden um Raymonda werbenden Männer. Der Sarazene wird dabei verwundet. Im Beisein des ungarischen Königs findet die prunkvolle Hochzeit zwischen Raymonda und Jean de Brienne statt.
Komponist und Werk:
Alexander Glasunow (1865 – 1936) war ein bedeutender russischer Symphoniker. Sehr bekannt ist auch sein Violinkonzert. Seine Kompositionen zeichnen sich durch souveräne Beherrschung der Kompositionstechnik und einen gewissen Hang zum Pathos aus.
RAYMONDA entstand in Zusammenarbeit mit dem grossen Choreographen Marius Petipa. Es steht ganz in der Tradition der grossen romantischen Handlungsballette Tschaikowskys. Die weit gehend sinfonisch gehaltene Partitur wird durch sarazenische und ungarische Charaktertänze aufgelockert. Die Titelrolle zählt zu den schwierigsten des klassischen Repertoires.
RAYMONDA war u.a. 1971/72 in Zürich zu sehen, mit Marcia Haydée und in der Choreographie von Rudolf Nueyev, der auch den Jean de Brienne tanzte, in einer der teuersten Ausstattungen (Nikolas Georgiadis) aller Zeiten für ein Ballett.
Für art-tv und oper-aktuell: © Kaspar Sannemann, 31.Oktober 2009