Montag, 28. Dezember 2009

Berlin, Komische Oper: LEAR, 27. Dezember 2009


Links vom Dirigenten: Komponist Aribert Reimann


Oper in zwei Teilen
Musik: Aribert Reimann
Libretto: Claus Henneberg, nach Shakespeares Drama
Uraufführung: 9. Juli 1978 in München

Kritik: (besuchte Aufführung: 27.Dezember 2009)
Eine Aufführung, welche einen vom ersten bis zum letzten Ton packt, in einem gewalteigen Strudel mitreisst und erschlagen zurücklässt. Das ist Musiktheater auf allerhöchstem Niveau, szenisch und vor allem musikalisch. Hans Neuenfels hat LEAR als spannendes, intensives Kammerspiel angelegt, nie ist man abgelenkt von Äusserlichkeiten, alles ist fokussiert auf die ergreifende Handlung, die unermessliche Charakterisierungskunst des Regisseurs. Hansjörg Hartung hat dazu eine einfache Bühne aus weissen, schwarzumrahmten Wänden gebaut, die Kostüme von Elina Schnizler unterstreichen die Zeitlosigkeit des Stoffs.
Die gewaltigen Gesangspartien werden von den Sängerinnen und Sängern durchwegs hervorragend und mit grosser Textverständlichkeit gemeistert. Allen voran Tómas Tómasson als Lear: Mit geradezu beängstigender Vehemenz und stimmlicher Kraft und Differenzierungskunst wirft er sich in die Rolle des alternden Königs, der lange braucht, um sein Sterben, seine Vermählung mit dem Tod zu akzeptieren.
Als Goneril brilliert Irmgard Vilsmaier: Sie bewältigt die schwierigen Intervallsprünge mit atemberaubender Präzision, ihr Spiel ist von Angst einflössender Grausamkeit. Die Koloraturen ihrer Schwester Regan meistert Erika Roos grandios. Sie spielt die Rolle der lüsternen, sich mit ihren Hunden - welche zu ihren grausamen Lustsklaven mutieren -vergnügenden Frau mit greller Boshaftigkeit. Die stillere, intelligente Cordelia hat gegenüber diesen dominanten Schwestern einen schweren Stand. Doch Caroline Melzer vermag vor allem in der grossen Arie im zweiten Teil zu berühren, als sie ihren Vater wieder findet. Ganz vortrefflich ist auch Jens Larsen, welchem als Gloster auf offener Bühne in einer nichts beschönigenden, brutalen Szene, die Augen ausgestochen werden.
Seine Söhne Edmund (gierig, schmierig und schneidend kalt spielt und singt John Daszak) und Edgar (mit zartem Counter und bewegendem Gesang: Martin Wölfel) sind ebenfalls vortrefflich besetzt.
Einzig Elisabeth Trissenaar als Narr (und im zweiten Teil als Tod) vermochte trotz grossartiger Deklamation in der Darstellung nicht ganz zu überzeugen. Sie wirkte mit ihrem gekünstelten, übertriebenen Spiel zu sehr als - wahrscheinlich gewollter - Fremdkörper in dieser sonst so direkt und brutal dargestellten Machtintrige.
Schlicht ein Wahnsinn ist die Leistung des Orchester der Komischen Oper Berlin unter Carl St. Clair. Da geht dem Zuschauer der tobende Sturm auf der Heide durch Mark und Bein, doch da sind auch immer wieder die aufwühlenden, stilleren, so wunderbar klangmalerisch komponierten Kommentare aus dem Orchestergraben zu hören, die den Ereignischarakter dieses Werkes und dieser Aufführung ausmachen.

Fazit: MUSS man gesehen und gehört haben. Ein dreistündiger Abend, der unter die Haut geht. Keine Angst vor zeitgenössischer Oper - ein Abend, geprägt von atemberaubender Intensität.



Inhalt:
Der alternde König Lear will sein Reich unter seinen drei Töchtern aufteilen. Jede soll ihm beteuern, wie lieb sie ihn habe. Während Goneril und Regan dies sehr wortreich tun, schweig seine Lieblingstochter Cordelia. Lear traut mehr den Worten als den Taten und verstösst deshalb seine jüngste Tochter. Doch die beiden Erbinnen erweisen sich als machtbesessene Monster. Ihres eigensinnigen Vaters und dessen Gefolge überdrüssig, vergabgen sie ichn. Nur von seinem Narren und dem treuen Grafen Kent begleitet, irrt er verlassen in der Heide umher und verfällt zusehends dem Wahnsinn. In einer gespiegelten Parallelhandlung glaubt der Graf Gloster seinem unehelichen Sohn Edmund, als dieser den legitimen Sohn Edgar des Verrats bezichtigt. Edgar wir ebenfalls verstossen und irrt nackt als “armer Tom” auf der Heide herum. Weil Gloster nach wie vor zu Lear hält, reissen ihm Regan und ihr Gemahl Cornwall die Augen aus. Edmund ist unterdessen zu Gonerils Liebhaber geworden. In Dover treffen alle aufeinander: Lear begegnet Cordelia, die sich um ihn kümmert, die aber auf Befehl Edmunds getötet wird. Edgar bewahrt seinen blinden Vater vor dem Selbstmord, Regan wird von Goneril aus Eifersucht (Edmund bezirzt beide Schwestern, um an die Macht zu gelangen) vergiftet. In einem Duell ersticht Edgar seinen Halbbruder Edmund. Goneril sieht ihre Felle davonschwimmen und bringt sich ebenfalls um. Lear bricht über der Leiche Cordelias verzweifelt zusammen.

Werk:
Am LEAR sind grosse Komponisten gescheitert, so zum Beispiel Giuseppe Verdi, welcher sich über einen zwei Jahrzehnte umfassenden Zeitraum mit dem Stoff befasste und die Komposition schließlich doch aufgab. Bei Aribert Reimann vergingen zehn Jahre von der ersten Anregung (von Dietrich Fischer-Dieskau) zur Komposition dieser Oper bis zu deren Uraufführung in München, unter der Leitung von Gerd Albrecht und mit Fischer-Dieskau als Lear, Jula Varady als Cordelia und Helga Dernesch als Goneril. Das Werk war anschliessend unter Michael Boder auch in Zürich zu sehen und taucht ab und an (viel zu selten) auf den Spielplänen auf. Immerhin gehört es nun verdientermaßen zu den erfolgreichsten Werken aus der zweiten Hälfte des 20 Jahrhunderts. Reimann verwendet mehrere Zwölftonreihen, welche er quasi leitmotivisch den Hauptpersonen zuordnet. Es entsteht ein atmosphärisch äußerst dichtes Klanggewebe, welches von grellen Clusterklängen und Klangballungen bis zu sehr zart und transparent orchestrierten leiseren Passagen reicht. Die Gestaltung der Gesangspartien entwickelt sich manchmal aus eindringlichem Sprechgesang, wobei auch hier die Tonhöhe notiert ist, führt zu imposanten Intervallsprüngen (Goneril) und zu waghalsigen Koloraturen (Regan, Cordelia). Der Patie des “armen Tom” ist einem Countertenor anvertraut. Berührend seine Kantilenen in der beeindruckend aufgebauten Gewitterszene auf der Heide.

Für oper-aktuell: Kaspar Sannemann, 28.Dezember 2009

Sonntag, 27. Dezember 2009

Zürich: IL BARBIERE DI SIVIGLIA, 6. Januar 2010








Copyright Fotos: Suzanne Schwiertz, mit freundlicher Genehmigung durch Opernhaus Zürich


Melodramma buffo in zwei Akten
Musik: Gioachino Rossini
Libretto: Cesare Sterbini
Uraufführung: 20. Februar 1816 in Rom

Vorstellungen in Zürich: 27.12./ 30.12.2009 / 1.1. / 6.1./ 8.1./ 10.1. / 13.1./ 15.1./ 17.1./ 22.1./ 24.1. und 10.7. 2010


Weitere Informationen und Tickets


Kritik: besuchte Vorstellung: 6. Januar 2010


Nachdem Katharina Thalbach in Berlin den Barbiere buchstäblich in den Sand gesetzt hat, durfte man gespannt sein, was das Team Cesare Lievi/Mario Botta aus dem Stück herausholen wird. Am Pult Altmeister Nello Santi!
Mit dieser Neuinszenierung von Rossinis unsterblicher Buffa wollten die Verantwortlichen wohl neue Wege beschreiten: Fort mit den putzigen, humorvollen, leicht angestaubten und trotzdem atmosphärisch dichten Vorgängerinszenierungen von Werner Saladin, Jean-Pierre Ponnelle und Grischa Asagaroff. Als Bühnenbildner hat man den Stararchitekten Mario Botta verpflichtet, welcher vier in alle Richtungen drehbare, aus je zwei Rhomboedern bestehende Säulen auf die Zürcher Bühne stellte. Die Flächen sind alle mit Leuchtdioden versehen, zum Teil zusätzlich noch verspiegelt. In diesem (irgendwie an die futuristisch anmutende Madrider Plaza Castilla erinnernden) Ambiente ist nun also der stockkonservative, misstrauische Dottore Bartolo zu Hause. Diese Bürohochhaus-Architektur erdrückt das Geschehen auf der Bühne beinahe. Weshalb Bartolo ausgerechnet da hingezogen sein sollte, bleibt sein Geheimnis. 
Weiter geht es hier 


Inhalt: (die Vorgeschichte zur Hochzeit des Figaro)
Graf Almaviva hat sich in das Mündel des Doktor Bartolo, Rosina, verguckt. Doch Bartolo bewacht Rosina wie seinen Augapfel, da er selbst die junge Schönheit heiraten möchte. Mithilfe des käuflichen Intriganten und Barbiers der Stadt, Figaro, gelingt es Almaviva, den trotteligen Doktor hereinzulegen, und Rosina zu ehelichen.
(Dass diese Ehe dann nicht nur glücklich ist, erfährt man in Mozarts LE NOZZE DI FIGARO…)

Werk:
Rossinis Meisterwerk ist bei der Uraufführung NICHT durchgefallen, wie immer wieder gerne kolportiert wird, sondern es fiel einer Intrige zum Opfer: Anhänger des Komponisten Paisiello, welcher den Stoff ebenfalls vertont hatte, versuchten die Oper des jungen Rossini niederzuschreien, angestachelt auch durch die Intendanz eines konkurrierenden römischen Opernhauses. Bereits die zweite Aufführung wurde zu einem Riesenerfolg, seither ist die Wirkung dieser Königin unter den Buffo Opern weltweit ungebrochen. Rossini hat das Werk, wie es damals üblich war, unter grossem Zeitdruck fertig stellen müssen. Doch war es gang und gäbe für die Komponisten jener Zeit, Teile von Arien und Ouvertüren aus eigenen (und manchmal auch fremden) Werken zu übernehmen. So können beim BARBIERE Melodien aus mindestens sieben anderen Opern Rossinis gefunden werden, auch aus ernsten Opern, wie ELISABETTA, REGHINA D´ INGHILTERRA (Ouvertüre).
Nichtsdestotrotz bereiten Rossinis melodischer Einfallsreichtum, sein musikalischer Witz und das untrügliche Gespür für bühnenwirksames Timing auch nach 200 Jahren noch immer ungetrübte Freude und Genuss.

Samstag, 26. Dezember 2009

Berlin, Deutsche Oper: IL BARBIERE DI SIVIGLIA, 25. Dezember 2009



Melodramma buffo in zwei Akten
Musik: Gioachino Rossini
Libretto: Cesare Sterbini
Uraufführung: 20. Februar 1816 in Rom

Kritik: (besuchte Aufführung: 25.Dezember 2009)
Was macht ein Regisseur, eine Regisseurin, wenn er (sie) einem Stück nicht ganz traut oder wenig damit anzufangen weiss? Man begibt sich auf den ausgetretenen Pfad des Theaters auf dem Theater. So auch Katharina Thalbach in dieser Neuproduktion: Sie verlegt das Geschehen in einen Badeort (Sevilla al Mare, warum auch nicht, es gibt ja auch eine Milano Marittima). Eine zweitklassige Gauklertruppe führt vor gelangweilten Badegästen von einer Lastwagenbühne aus die olle Klamotte IL BARBIERE DI SIVIGLIA auf. Die ungebildeten Touris scheinen sich aber zusehends in die Commedia dell´Arte hineinzufinden, sich zu solidarisieren und ziehen sich im zweiten Akt Perücken und Rokoko Kostüme an - am Strand… Soweit so schlecht. Schlimm ist jedoch, dass die Nebenhandlungen der Pauschaltouristen, vom schwulen Quotenpärchen bis zur allein erziehenden Mutter, vehement von der eigentlichen Komödie ablenken, sie streckenweise ganz zu Fall bringen. Bereits die Ouvertüre wird durch trippelnde Nonnen (wie originell…), Oldtimer und einen echten, zugegebenermaßen sehr putzigen, Esel massiv gestört.

Die Gewittermusik geht vollständig baden. Das hat Rossinis Musik nicht verdient. Die eigentliche Handlung ist dann sehr konventionell und eher bescheiden in Szene gesetzt, wobei die spritzigen Einfälle da leider fehlen. Das Meiste verpufft in der Rahmenhandlung.
Wenigstens gab´s an diesem Abend musikalisch nicht viel zu bemängeln: Lawrence Brownlee war mit seiner schlanken, sicher und virtuos geführten Stimme und seiner darstellerischen Agilität ein ganz wunderbarer Almaviva. Die grosse und mit immensen Schwierigkeiten versehene Schlussarie sang er makellos, auch wenn hier wieder die Regiemätzchen mit dem Mikrofon und den ungelenken DSDSS - Hüftschwüngen störend wirkten. Seine Angebetete, Rosina, wurde von Ketevan Kemoklidze mit sattem, warmem Mezzzosopran gesungen. Das letzte Quentchen an Bravour (und Durchschlagskraft in den Ensembles) fehlte allerdings. Fabio Maria Capitanucci blieb, obwohl stimmlich sehr potent, als Drahtzieher Figaro im Hintergrund, von der Regie im Stich gelassen, trotz Schwebens in der Luft, gleich einer billigen Zirkusnummer. Bartolo war bei Maurizio Muraro bestens aufgehoben, aber auch hier fiel der Regie nichts wirklich Überzeugendes ein, ein bisschen Rheumatismus anzudeuten reicht nicht, um diesen Mann zu charakterisieren. Paata Burchuladze war ein solider und sonorer Basilio, welcher eine differenziert gestaltete Verleumdungsarie, jenseits von Effekthascherei, darbot. Hulkar Sabirova liess in ihrer Arie als Berta aufhorchen.
Enrique Mazzola am Pult des wunderbar leicht und sauber spielenden Orchesters der Deutschen Oper Berlin kostete mit den Musikerinnen und Musikern den Witz Rossinis gekonnt aus, war ein sehr aufmerksamer und klare Akzente setzender Dirigent.

Fazit: Hübsche Kulisse, viele mehr oder weniger lustige Gags in der Rahmenhandlung - doch wo bleibt das eigentliche Stück? Musikalisch hingegen sehr erfreulich.



Inhalt: (die Vorgeschichte zur Hochzeit des Figaro)
Graf Almaviva hat sich in das Mündel des Doktor Bartolo, Rosina, verguckt. Doch Bartolo bewacht Rosina wie seinen Augapfel, da er selbst die junge Schönheit heiraten möchte. Mithilfe des käuflichen Intriganten und Barbiers der Stadt, Figaro, gelingt es Almaviva, den trotteligen Doktor hereinzulegen, und Rosina zu ehelichen.
(Dass diese Ehe dann nicht nur glücklich ist, erfährt man in Mozarts LE NOZZE DI FIGARO…)

Werk:
Rossinis Meisterwerk ist bei der Uraufführung NICHT durchgefallen, wie immer wieder gerne kolportiert wird, sondern es fiel einer Intrige zum Opfer: Anhänger des Komponisten Paisiello, welcher den Stoff ebenfalls vertont hatte, versuchten die Oper des jungen Rossini niederzuschreien, angestachelt auch durch die Intendanz eines konkurrierenden römischen Opernhauses. Bereits die zweite Aufführung wurde zu einem Riesenerfolg, seither ist die Wirkung dieser Königin unter den Buffo Opern weltweit ungebrochen. Rossini hat das Werk, wie es damals üblich war, unter grossem Zeitdruck fertig stellen müssen. Doch war es gang und gäbe für die Komponisten jener Zeit, Teile von Arien und Ouvertüren aus eigenen (und manchmal auch fremden) Werken zu übernehmen. So können beim BARBIERE Melodien aus mindestens sieben anderen Opern Rossinis gefunden werden, auch aus ernsten Opern, wie ELISABETTA, REGHINA D´ INGHILTERRA (Ouvertüre).
Nichtsdestotrotz bereiten Rossinis melodischer Einfallsreichtum, sein musikalischer Witz und das untrügliche Gespür für bühnenwirksames Timing auch nach 200 Jahren noch immer ungetrübte Freude und Genuss.

Für oper-aktuell: Kaspar Sannemann, 26.Dezember 2009

Donnerstag, 24. Dezember 2009

Berlin, Staatsoper: IL TURCO IN ITALIA, 22. Dezember 2009




Dramma buffo in zwei Akten
Musik: Gioachino Rossini
Libretto: Felice Romani
Uraufführung: 14. August  1814 in Mailand

Kritik: (besuchte Aufführung: 22.Dezember 2009)
Obwohl dies erst die 10. Vorstellung dieser Produktion war, wurden die meisten Rollen neu besetzt (Ausnahmen waren Alfredo Daza als Dichter, Katharina Kammerloher als Zaida und Forian Hoffmann als Abazar). Mit Alexandrina Pendatchanska hat man eine glaubwürdige Interpretin für die Fiorilla gefunden: Ihr beeindruckender Stimmumfang, die atemberaubenden Koloraturen und Fiorituren, zusammen mit einem leicht gutturalen, sehr erotischen Timbre, frischem Spiel und blendendem Aussehen führten zu einem rundum begeisternden Porträt dieser lebenslustigen Frau auf der Suche nach sexueller Erfüllung. Ihr Gatte hatte da natürlich einen schweren Stand, Andrea Concetti machte das Beste daraus und lief in der Auseinandersetzung mit dem von sexueller - und stimmlicher - Potenz nur so strotzenden Selim von Giovanni Furlanetto auch darstellerisch zu Hochform auf. Colin Lee sang die von immensen Schwierigkeiten gespickte grosse Tenorarie des Narciso mit scheinbar mühelos erklommenen Spitzentönen - beeindruckend. Alfredo Daza spielte und sang überzeugend den verzweifelten, sich immer stärker in den Alkohol flüchtenden Dichter, dem die Fäden seiner Komödie immer mehr aus der Hand zu gleiten drohten. Katharina Kammerloher war eine mit warmem Mezzosopran um ihren Geliebten erfolgreich kämpfende Zaida.
David Aldens Konzeption überzeugte mich sehr: Er siedelt das Geschehen in den Fünfzigern des vergangenen Jahrhunderts an, in einem Ambiente zwischen Fellini und Pirandello, mit einem Hauch von der Absurdität eines Ionesco. Trotz aller witzigen Theatralik herrscht kein plumper Klamauk - es werden auch tief verborgene Wünsche und ernsthafte Seiten der Charaktere an die Oberfläche geholt. Auch dem Happy End traut der Regisseur nicht: Während sich Geronio genüsslich ins schicke Ehebett legt, turtelt Fiorilla schon wieder mit Narciso …
Die Staatskapelle unter Riccardo Frizza begleitete mit Akkuratesse und Verve.


Inhalt: Ein Poet sucht Ideen für eine Komödie. Er findet die Inspiration durch verschiedene Charaktere in seinem Umfeld. Da sind zum Beispiel Don Geronio, welcher unter den Launen seiner jungen, lebenslustigen Gattin Fiorilla leidet, oder Zaida, welche vom Türken Selim verstossen wurde.
Selim kommt in Italien an, Fiorilla ist von ihm fasziniert und die beiden beginnen zu flirten. Der Dichter freut sich über die Verwicklungen, doch da ist auch noch Fiorillas Liebhaber Narciso, welcher das alles überhaupt nicht lustig findet. Unterdessen versöhnen sich auch Zaida und Selim wieder, doch Fiorilla ist nicht gewillt, Selim mit einer Rivalin zu teilen. Der Dichter bekommt ein erstes, turbulentes Finale für seine Komödie.
In einer umwerfend komischen Szene bietet Selim Geronio an, ihm nach türkischem Brauch die Gattin abzukaufen. Geronio seinerseits bietet dem Türken nach italienischem Brauch Prügel an. Der Dichter berichtet von einem Fest, auf dem Fiorilla von Selim entführt werden sollte. Geronio solle dort ebenfalls als Türke verkleidet erscheinen. Narciso hat die Unterhaltung mitgehört und beschliesst, dort ebenfalls als Türke zu erscheinen. Auch Zaida trifft dort verkleidet ein. Nach einigem Drunter und Drüber finden sich die “richtigen” Paare wieder. Doch ist dies nun wirklich ein glückliches Ende, ein lieto fine?

Werk: Il Turco in Italia beinhaltet musikalisch alles, was eine typische Rossini Oper aus dieser äußerst produktiven Schaffensperiode des Komponisten ausmacht: Crescendo Wellen, bravouröse Arien und Kavatinen, spritzige Ensembles, witzige und rasante Duette, turbulente Finali - alles geprägt von grosser melodiöser Eingebungskraft und untrüglichem Sinn für theatralische Effekte.
Wie damals üblich stammen nicht alle Noten aus Rossinis Feder, einiges überliess der Vielschreiber Mitarbeitern und Schülern. Für spätere Wiederaufnahmen wurden Szenen gestrichen oder neu eingefügt, den Sängern Arien auf den Leib geschrieben. Die Oper erschien bis Mitte des 19. Jahrhunderts recht häufig auf den Spielplänen der Opernhäuser, geriet danach aber zusehends in Vergessenheit, bis 1950 das Teatro Eliseo das Werk unter Gianandrea Gavazzeni und mit Maria Callas als Fiorilla und Cesare Valletti als Narciso herausbrachte. In jüngerer Zeit erhielten die Produktionen aus Genf, mit Catherine Malfitano und aus Zürich mit Cecilia Bartoli viel Beachtung.

Dienstag, 22. Dezember 2009

Berlin, Philharmonie: EIN DEUTSCHES REQUIEM, 19.12.2009



Mancher Besucher mag sich gefragt haben, weshalb die Berliner Philharmoniker so kurz vor Weihnachten ein Requiem aufs Programm setzten. Doch wenn man dann tief ergriffen hört, wie viel Trost und Hoffnung für trauernde Hinterbliebene das Werk ausstrahlt, erübrigen sich solch banale Fragen. Überwältigend war der Anblick des an die 200 Sängerinnen und Sänger starken Atlanta Symphony Orchestra Chorus. Doch die Homogenität und die äusserst subtile Klanggestaltung, die klare und genaue Diktion und die saubere Intonation verhinderten undifferenzierte Klangmassierungen. Dirigent Donald Runnicles (der neue Chef der Deutschen Oper Berlin) baute das Werk klug und zurückhaltend auf und erreichte dadurch mit den Steigerungen und Fortissimo Ausbrüchen ungemein starke, unter die Haut gehende Wirkungen, auch bei nicht religiösen Zuhörern. Als Gesangssolisten setzten Gerald Finley (Bariton) und Helena Juntonen (Sopran) weitere berührende Höhepunkte. Die Berliner Philharmoniker waren einmal mehr ganz grosse Klasse.

Leider war der erste Teil des Konzerts eher enttäuschend: Die Uraufführung von Sebastian Curriers Harfenkonzert TRACES, einem Auftragswerk der Berliner Philharmoniker. Die Musik war zwar stellenweise von ätherischer Schönheit, die Harfenisten Marie-Pierre Langlamet entlockte den Saiten ihres wunderbaren Instruments zauberhafte Klänge- und doch tat sich in den fünf Sätzen nichts Überraschendes, Aufregendes. Musik zum Einschlafen, mehr nicht. Der erste und der vierte Satz hätten gereicht.

Sonntag, 13. Dezember 2009

Zürich: WALTRAUD MEIER, Liedmatinée, Sonntag, 13. Dezember 2009



Unangeklopft ein Herr tritt abends bei mir ein: "Ich habe die Ehr', Ihr Rezensent zu sein!":
So beginnt das Lied ABSCHIED von Hugo Wolf (Text: Mörike), welches Kammersängerin Waltraud Meier als humoristische, abschliessende Zugabe heute Morgen im Opernhaus Zürich sang. Der Rezensent im Lied wird zum Schluss mit einem Fusstritt von der Künstlerin die Treppe hinunterbefördert - dieses Schicksal wird mir hoffentlich erspart bleiben. Ich will mich ja zum Glück auch gar nicht über ihre Nase auslassen, wie der unglückselige Mann im Lied, sondern über Frau Meiers phänomenale, warme Stimme und ihre überragende Gestaltungskunst.
Wie auf ihrer kürzlich erschienenen, hochgelobten CD sang die Künstlerin Perlen des deutschen Kunstlieds von Franz Schubert und Richard Strauss.
Franz Schubert: Von erfüllter Zartheit gesungen und innig gestaltet waren WEHMUT und NACHTSTÜCK, mit dramatischer, die drei Rollen Vater, Kind, Erlkönig wunderbar auslotender, aber nie manierieter Ausdruckskraft dann das Minidrama ERLKÖNIG, und von traurig verträumter Rückbesinnung zu schierer Verzweiflung alle Nuancen der Stimmung durchschreitend GRETCHEN AM SPINNRADE. Dazwischen nahm man mitfühlend am traurigen Schicksal der FORELLE Anteil.
Richard Strauss: Jubelnd und leuchtend trieb Waltraud Meier ihre Stimme zu den herrlich aufblühenden Spitzentönen in den Liedern (und echten Hits des Liedrepertoires...) CÄCILIE, BEFREIT und ZUEIGNUNG; wunderbar verhalten und mit wie selbstverständlich aus dem Text herausströmenden, facettenreichen Schattierungen dann die Lieder WINTERWEIHE, WIE SOLLTEN WIR GEHEIM SIE HALTEN und  DIE NACHT. Der Höhepunkt des ersten Teils war das Lied MORGEN: Der Pianist JOSEF BREINL setzte mit wunderbar sanftem, behutsamem Anschlag zum Vorspiel an, die Stimme von Frau Meier und der herrlich weiche Klang des Flügels verschmolzen zu tief empfundener Melancholie.

Der zweite Teil des Rezitals war den vier lezten Liedern (op. 150) von Richard Strauss gewidmet, in der Klavierfassung von Max Wolf und Ernst Roth. JOSEPH BREINL verstand es aufs Vortrefflichste, die Natur- und Stimmungsschilderungen (von den Regentropfen über die schwirrnden Lerchen bis zum Schweben der Seele in den Himmel) auf dem Flügel zu evozieren, so dass man die Orchesterfassung, an welche sich das Ohr im Verlauf der Jahre gewöhnt hatte, gar nicht vermisste. Vom schwülstigem FRÜHLING und dem schwermütigen  SEPTEMBER zu den wohl schönsten Kompositionen von Strauss, BEIM SCHLAFENGEHEN (alle auf Texte von Hermann Hesse) und IM ABEBDROT (Joseph von Eichendorff) wartete Waltraud Meier mit gefühlstiefer Ausdrucks- und Gestaltungskraft, verbunden mit exemplarischer Phrasierungskunst auf. Das Publikum dankte den beiden Künstlern mit einer Standing Ovation, sie bedankten sich beim Publikum neben der schon erwähnten Zugabe noch mit einem zweiten Lied von Hugo Wolf und einer zu Herzen gehenden Wiedergabe von Mahlers ICH BIN DER WELT ABHANDEN GEKOMMEN aus den Rückert Liedern.

Für oper-aktuell: Kaspar Sannemann, 13. Dezember 2009

Samstag, 12. Dezember 2009

Zürich: DIE FRAU OHNE SCHATTEN, 13.12.209


Alle Fotos: suzanne schwiertz, mit freundlicher Genehmigung opernhaus Zürich

Premiere: 13. Dezember 2009
Oper in drei Akten
Musik: Richard Strauss
Text: Hugo von Hofmannsthal
Uraufführung: 10. Oktober 1919 in Wien
Aufführungen in Zürich:
13.12. | 16.12. | 19.12. | 22.12. | 26.12.2009 | 3.1. | 9.1. 2010
Infos und Karten
Kritik:

Bis weit in den dritten Akt hinein war man gestern Abend in Zürich überzeugt, eine der stringentesten, dramaturgisch schlüssigsten Inszenierungen von Richard Strauss’ komplexer Oper DIE FRAU OHNE SCHATTEN erleben zu dürfen. Doch leider wartete das Inszenierungsteam (Regie: David Pountney, Bühne: Robert Israel, Kostüme: Marie-Jeanne Lecca) mit einem unsäglichen Schlussbild auf, einer Mischung aus Kindergeburtstagsfest und und Religionskitsch. Selbst die böse Tante Amme kommt mit dem grossen Suppentopf zur Speisung der 5000 (oder so). Schon zu Beginn des dritten Aktes, als die beiden Paare in Mänteln (welche halb Röntgenbild, halb Turiner Grabtuch darstellten) ihre Prüfungen durchleiden mussten, fragte man sich, welche Kostüme wohl darunter verborgen sein werden. Nun, das Ablegen der Mäntel hätte man dem Publikum ersparen können, die zum Vorschein kommenden Alltagskleider waren an Grässlichkeit nicht mehr zu überbieten. Mit der Holzhammermethode und desillusionierender Bühne (ziemlich ausgelutschter Effekt) wollte Pountney wohl den Zuschauern klarmachen, dass er das wertkonservative, reaktionäre Weltbild, welches Strauss und Hofmannsthal in der Oper propagieren, nicht teilt, sondern dass alle Menschen in ihrem Streben nach Glück und Fortpflanzung gleich, die Klassenunterschiede aufgehoben sind.
Von solcher Überzeichnung war in den ersten beiden Akten nichts zu spüren, sie lebten von einer spannenden, ganz aus dem Text heraus entwickelten Personenregie. Die Geisterwelt war mit vielen Assoziationen an den Surrealismus eines Max Ernst und an die gefiederte Fauna ausgestattet, das in einem habsburgischen Ambiente lebende Kaiserpaar huldigte der Jagd und dem Luxus, während die einfachen Färbersleute in ihrem Betrieb auf Kinderarbeit angewiesen waren, um über die Runden zu kommen. Sehr anschaulich dargestellt wurde dann die Konfrontation der in ihrer Scheinwelt lebenden Kaiserin mit den einfachen Verhältnissen, in welchen die Menschen der unteren Schichten zu existieren hatten. Eindringlich zeigte sie ihr sich stetig weiter entwickelndes Mitgefühl, während die Amme ihren verächtlichen Ekel vor dieser Armut, aus der sie wohl einst selbst aufgestiegen war, kaum verhehlen konnte. Hier wurden eindringlich angelegte Charakterstudien entworfen. Beklemmend auch die Darstellung der Färberin, ihr Widerwille gegen eigene Kinder, deren potentielles, tristes Schicksal sie in der grandiosen Fischlein-Szene voraussah, ihre Verführbarkeit durch billigen Varieté-Klamauk.
Dieser falsche Tand und die heuchlerischen Wahrsagungen der Amme hatten gegen die aufkeimende Empathie der Kaiserin keine Chance, vor den Augen des von der Amme vergebens zu Hilfe gerufenen Geisterboten obsiegte die Liebe, und der trügerische Zauber löste sich in einer gegen ihn gerichteten, äusserst bühnenwirksamen Implosion auf. In einer zerstörten, nahezu versteinerten Welt begannen dann die Prüfungen des dritten Aktes.
Drei der fünf Protagonisten wagten sich an diesem Abend an ein Rollendebüt: Birgit Remmert war eine durch eindringliche Mimik und ausdrucksstarken Gesang beängstigend heimtückische Amme. Die lange Vorbereitungszeit, welche sie in das Studium dieser rätselhaften Gestalt investiert hatte, hat sich gelohnt. Hier reift eine der grossen Darstellerinnen dieser ungemein schwierig zu interpretierenden Rolle heran.



Roberto Saccà beeindruckte in der hohen Tessitura des Kaisers mit wunderbar weichem Tonansatz, schmeichelnder Höhe und belcantistischer Phrasierung. Wohl vermochte sich sein heller Tenor nicht immer restlos gegen die Klangwogen durchzusetzen, doch ist diese auf runder Tongebung basierende Gestaltung einem forcierten Hochstemmen bei weitem vorzuziehen. Dem Gutmenschen Barak hat Strauss die einschmeichelndsten Melodien überlassen, Michael Volle kostete sie mit seinem warmen, differenziert eingesetzten, satten Bariton aufs Wunderbarste aus. Er scheint über unendlichen Atem für die zum Teil langen (und vom Dirigenten auch in getragenen Tempi dirigierten) Phrasen zu verfügen. Herr Volle zeigte einfühlsam, wie dieser sanftmütige Mann unter der ständigen Zurückweisung durch seine Frau leidet, wie dieser Leidensdruck schliesslich kaum mehr auszuhalten ist und in brutale Aggression umzuschlagen droht.
Bewährte Interpretinnen ihrer Rollen sind Emily Magee als Kaiserin und Janice Baird als Färberin. Frau Magee gestaltete die Menschwerdung der Kaiserin, welche in ihrer wunderschönen Szene Vater bist du’s gipfelt, dermassen ergreifend, dass dem Rezensenten die Superlative zu fehlen drohen. Sowohl mit zarten, warmen, als auch mit herrlich an- und abschwellenden, gleissenden Tönen wurde diese Frau gleich Parsifal „durch Mitleid wissend“.
Die mit ihrem ausweglos scheinenden, tristen Schicksal hadernde Färberin wurde von Janice Baird aufwühlend gestaltet. Ihre Stimme kann zwar schneidend klingen, wird aber nie schrill oder keifend. Die widersprüchlichen Gefühlsregungen dieser leidgeprüften Frau liessen sich in ihrem Gesicht wie in einem offenen Buch ablesen. Ihr gelang eine darstellerisch und gesanglich überaus reife Leistung. Im letzten Akt vereinigten sich die (räumlich noch getrennten) Stimmen von Michael Volle und Janice Baird zu einem der fesselndsten Augenblicke des grandiosen Abends.


Luxuriös besetzt waren die Dienerinnen/Kinderstimmen mit den Damen Guo, Olvera, Friedli, Schlosser, Lehmkuhl (auch als Stimme von oben) und Grobholz. Sandra Trattnigg lieh dem Falken und dem Hüter der Schwelle ihre schöne Sopranstimme, während Beate Vollack virtuos die akrobatischen Aktionen des treuen Vogels ausführte. Reinhard Mayr war ein solider Geisterbote auf Stelzen, Valeriy Murga, Andreas Hörl und Martin Zysset verliehen Baraks Brüdern Profil, Peter Sonn gelang als Erscheinung des Jünglings beinahe die Verführung der Färberin.
Das Orchester der Oper Zürich durfte noch einmal eine Neueinstudierung unter seinem ehemaligen GMD, Franz Welser-Möst, präsentieren. Der beinahe unerschöpfliche Farbenreichtum der schwierigen Partitur erklang trotz aller Klangmassierungen stets transparent, wurde nie zu einem nur lärmig breiigen Chaos, die kammermusikalischen Kostbarkeiten wurden von den Solistinnen und Solisten des Orchesters makellos herausgearbeitet. Einige Passagen, wie z.B. die Schlussszene des ersten Aktes mit den Wächtern der Stadt, waren vom Tempo her etwas zu gedehnt dirigiert, die drei Männer (Bermúdez, Strazanak und Slawinski) fanden so nicht zum geforderten, runden Gesang. Doch insgesamt schuf Maestro Welser-Möst mit dem fantastischen Orchester einen dynamisch fein abgestuften, der nicht unproblematischen Akustik des Hauses angepassten, Kosmos von erfüllenden, auch die gleissenden Dissonanzen nicht scheuenden Klängen.

Fazit:
Mit einer musikalisch auf so hohem Niveau stehenden und szenisch zumindest in den ersten drei Stunden spannungsgeladenen, mitreissenden Aufführung wird einmal mehr klar, dass der Theaterpraktiker Richard Strauss keine Note zuviel geschrieben hat.

Inhalt:
Die Kaiserin, Tochter des Geisterkönigs Keikobad, einst mit der Fähigkeit sich in Tierwesen zu verwandeln ausgestattet, ist in ihrer Ehe mit dem Kaiser kinderlos geblieben, sie wirft keinen Schatten. Ihre Amme, die dem Geisterkönig treu ergeben ist und alles Menschliche hasst, erhält vom Geisterboten die Nachricht, dass der Kaiser versteinern muss, wenn die Kaiserin innert kurzer Frist keinen Schatten wirft. Die Kaiserin erfährt vom drohenden Schicksal ihres Mannes durch dessen Jagdfalken. Sie befiehlt der Amme, ihr einen Schatten zu verschaffen. Gemeinsam begeben sie sich hinunter zu den Menschen, in die ärmliche Behausung des Färbers Barak und dessen Gemahlin. Diese Ehe ist ebenfalls kinderlos, weil die Färberin sich ihrem Mann zusehends verweigert. Die Amme blendet die einfache Färbersfrau mit Zaubertricks, einem schönen Jüngling und Reichtum. Die Färberin schliesst den Pakt mit der Amme und ist bereit, ihren Schatten zu verkaufen. Die Kaiserin versteht den schlimmen Handel, hat Erbarmen mit Barak, aber nicht die Kraft einzuschreiten. Die Situation im Färberhaus eskaliert. Die Färberin kündigt ihrem Mann die eheliche Treue, der eigentlich sanftmütige Barak reagiert vehement. Doch bevor er seiner Frau körperlich zu nahe kommen kann, entgleiten der Amme die Fäden, die Erde öffnet sich und verschlingt das Färberpaar. Kaiserin und Amme können sich gerade noch retten. Nun beginnt die Zeit der Prüfungen: Das Färberpaar gelangt durch die Trennung zur Einsicht gegenseitiger Liebe, die Kaiserin ficht einen inneren Kampf mit sich aus: Einerseits will sie ihren Mann vor dem Versteinern bewahren, andererseits hat sie enormes Mitleid mit den Menschen. Dieses Gefühl ist stärker. Sie stellt sich gegen ihren Vater Keikobad: ICH WILL NICHT, der erste menschliche Schrei, den sie ausstösst, gleich einer gebärenden Mutter. Damit befreit sie Färberin und Färber und rettet ihren Mann. Die Zeit der Prüfungen ist vorbei, die Stimmen der Ungeborenen kündigen an, dass sie nicht mehr lange ungeboren bleiben werden.

Werk:
Mozart (ZAUBERFLÖTE, mit ihren Prüfungen für die beiden Paare), Goethe (das Mephistophelische der Amme) und fernöstliche Symbolik standen Pate für dieses komplexe, in den immensen Anforderungen an Protagonisten, Orchester und Bühne einzigartige Werk. Von Kennern und eingeschworenen Fans wird diese farbenreiche, in ihrer verführerischen Sogwirkung einmalige Partitur salopp „FroSch“ genannt. Strauss setzte ein riesiges Orchester ein, reicherte es mit Glasharfe, Celesta und chinesichen Gongs an. Die Tonalität wird immer wieder aufgebrochen, grelle, Gänsehaut erzeugende Tutti-Effekte wechseln mit beinahe kammermusikalisch zarten Sequenzen.
Obwohl das Werk bereits 1915 beendet war, konnte die Uraufführung wegen der Wirren des ersten Weltkriegs erst 1919 stattfinden.
Musikalische Höhepunkte:
Ist mein Liebster dahin, Kaiserin, Akt I, mit gefürchteter Koloratur
Was wollt ihr hier?, Szene Färberin, Amme, Kaiserin mit dem herrlichen Aufschwung „O Welt in der Welt“ der Färberin
Falke, Falke, du wiedergefundener, Kaiser, Akt II
Es gibt derer, die haben immer Zeit, Färberin, Barak, Amme, Jüngling, Akt II
Sieh, Amme, sieh, Kaiserin, Amme, Akt II
Das Weib ist irre, Finale Akt II
Schweigt doch, ihr Stimmen – Mir anvertraut, Färberin, Barak, Akt III
Vater bist du' s?, Kaiserin, Akt III
Wenn das Herz aus Kristall - Nun will ich jubeln, Finale, Akt III. Kaiser, Kaiserin, Färber, Färberin, Stimmen der Ungeborenen

Für oper-aktuell: Kaspar Sannemann, 14. Dezember 2009

Sonntag, 6. Dezember 2009

Luzern: L'heure espagnole/Ariane, 10.12.2009



  
copyright der Bilder: luzerner theater


L'heure espagnole
Oper in einem Akt
Musik: Maurice Ravel
Text: Franc Nohain
Uraufführung: 19. Mai 1911 in Paris


Ariane
Oper in einem Akt
Musik: Bohuslav Martinů
Text: vom Komponisten, nach einem Theaterstück von Georges Neveux
Uraufführung: 2. März 1961 in Gelsenkirchen
Vorstellungen in Luzern:
10.12. | 20.12 | 23.12. | 26.12. | 30.12.2009 | 3.1. | 6.1. | 8.1.2010




Kritik:

Und wieder beweist das Luzerner Theater, dass es zu den innovativeren Häusern der Schweiz, ja des deutschsprachigen Raums gehört:
Zwei Frauen auf der Suche nach Erfüllung in der Liebe: Dies ist die Klammer, welche die beiden Einakter zusammenhält. Die eine Frau, Concepción, sucht sie im sexuellen Seitensprung, die andere, Ariane, strebt eine Erhöhung ihrer Gefühle durch – beinahe wagnerische – Entsagung an.
Bei Maurice Ravel wird das Streben der Frau sehr naturalistisch geschildert, als eine Komödie im Stil der Commedia dell'arte, bei Bohuslav Martinů wirkt die Aktion tiefenpsychologisch stilisiert.
Die Regisseurin Christine Cyris und der Bühnenbilder Werner Hutterli haben die beiden Werke raffiniert und intelligent miteinander verbunden. Die grossen Pendel der Uhren im Geschäft des Uhrmachers Torquemada werden für Ariane quasi umgedreht, werden zu unerbittlich schlagenden, an Schiffchen im Ozean erinnernde Pendel von Metronomen. Silvana Arnold hat die zu den Geschichten passende Farbdramturgie in den Kostümen beigesteuert: Rottöne für die Leidenschaften bei Ravels Oper, kalte Blautöne für die beinahe ätherisch wirkende Ariane in Martinůs Werk. Die trotz aller Unterschiedlichkeit im Handeln existierende Verbundenheit der beiden Protagonistinnen wird immer wieder sichtbar gemacht. So treten beide gemeinsam zu Beginn des Abends auf, Ariane zieht Concepción weg von den oberflächlichen Männern und hinein in ihre vergeistigte Welt.

Der zweite Teil des Abends, Martinůs ARIANE, wirkt erstaunlicherweise in Luzern insgesamt spannender und intensiver, während Ravels Buffa nicht so recht vom Fleck kommt. Vielleicht liegt es an der doch zu spärlichen Ausstattung, mit welcher man unbedingt einer verstaubt wirkenden Schwankhaftigkeit entgehen wollte. Der Verzicht auf jegliche Requisiten – mit Ausnahme eines wirklich überflüssigen Kickboards für den Maultiertreiber Ramiro – führt bei den Darstellern zu einer gewissen Steifheit. Die grosse Ausnahme ist Caroline Vitale als ungemein präsente Concepción: Ihre ausdrucksstarke Mimik gepaart mit ihrem voll klingenden, auch hysterische Schärfen nicht kaschierenden Mezzo, führt zu einem überzeugenden Rollenporträt. Die Männer haben bei diesem Vollblutweib einen schweren Stand: Jason Kim (Gonzalve) ergeht sich in schöngeistigen, mit tenoralem Schmelz vorgetragenen hohlen Phrasen, Utuku Kuzuluk ist der gehörnte, farblose Ehemann, der dies aber nicht zu merken scheint und aus der ganzen Situation noch Profit schlägt, Tobias Hächler singt überzeugend den naiven Ramiro, im Spiel wirkt er relativ verhalten, ebenso Flurin Caduff als reicher Machtmensch Don Inigo. Immerhin neigen die Darsteller nicht zum Chargieren, was dann auch wieder wohltuend ist. Doch einmal mehr zeigt sich, wie unendlich schwierig es sein kann, eine Komödie in Szene zu setzen. Viel Witz kommt jedoch aus dem Orchestergraben: Rick Stengårds und das Luzerner Sinfonieorchester meistern die auch rhythmisch farbige und flimmernde Partitur mit Esprit und Delikatesse. Nach der Pause leiten die Musiker dann ebenso prägnant die im neoklassizistischen Duktus komponierte ARIANE ein: Hier sind grossartige Details in der Personenführung zu erleben – die zarte Annäherung zwischen Ariane und Theseus, die gespaltene Persönlichkeit des Theseus mit dem Minotaurus als Alter Ego (beinahe unheimlich präsent Boris Petronje), das kurze Liebesspiel von Ariane und Theseus im Intermezzo, die (in leichter, aber sinnvoller Abänderung gegenüber dem Libretto) Ermordung des Minotaurus durch Ariane, das Schwanken – gleich einem Metronom – der Ariane zwischen Minotaurus und Theseus.
Madelaine Wibom meistert die anspruchsvolle Titelpartie mit herrlich zarten, anrührenden und mit zauberhaftem Vibrato umflorten Phrasen. Ihr grosses Lamento am Schluss ist von zu Tränen rührender, schwebender Zärtlichkeit erfüllt. Mit seinem markanten Bariton und seinem blendenden Aussehen gibt Tobias Hächler einen beeindruckenden Theseus.
Jason Kim (Burun), Utku Kuzuluk (hervorragend als Wächter!) und Flurin Caduff komplettieren das vorzügliche Ensemble, welches am Ende des Premierenabends zu Recht vom Publikum heftig gefeiert wurde.
Fazit:
Allein schon wegen der ARIANE lohnt sich die Reise nach Luzern: Der Beitrag des Luzerner Theaters zum 50. Todestag von Bohuslav Martinů ist eine echte Entdeckung!
Inhalte und Werke:
L'heure espagnole:
Concepción, die Frau des Uhrmachers Torquemada in Toledo, benutzt die wöchentliche Abwesenheit ihres Mannes, welcher die Rathausuhren kontrollieren muss, um ihre Liebhaber zu empfangen. Doch weder der Dichter Gonzalve, noch der fettleibige Bankier Don Inigo kommen wie erhofft zum Zuge, sondern ausgerechnet der Maultiertreiber Ramiro, dessen Qualitäten Concepción erst im Verlauf des turbulenten Geschehens entdeckt. Der zurückkehrende Ehemann macht mit den gescheiterten Liebhabern lukrative Geschäfte.
Ravel, der Komponist des weltberühmten BOLノRO, schrieb über seinen Einakter:
Der Geist des Werkes ist uneingeschränkt humoristisch. Es ist vor allem die Musik, die Harmonie, der Rhythmus, die Orchestrierung, wodurch ich die Ironie zum Ausdruck bringen wollte, und nicht, wie in der Operette, die willkürliche, übertriebene Wörterhäufung.“
Und tatsächlich ist die Instrumentation dieser Preziose von einer genialen Raffinesse: Bläsertriller, ein Tubasolo, Xylophonklänge, Flageoletts und Tremoli der Streicher, schnelle Wechsel zwischen gestrichenen und gezupften Saiten – und dies alles gepaart mit an spanische Volkstänze angelehnte Rhythmen, wie Habanera und Malgueña.
Ariane:
Das Werk schildert die Begegnung von Ariadne mit dem Held Theseus, ihre gegenseitige Liebesbeziehung, die Tötung des Minotaurus durch Theseus und die Klage der von Theseus verlassenen Ariadne, welche auf einer einsamen Insel auf ihren Tod wartet.
Martinů, durch die vokale Darstellungskunst von Maria Callas angeregt, beendet seinen Einakter mit einem gross angelegten Sopran-Lamento, welches ungefähr einen Fünftel der Spieldauer des Einakters einnimmt. Ihn interessierte vor allem die psychoanalytische Sicht auf die beiden Protagonisten. So ist der Minotaurus das empfindsamere ICH des Helden Theseus, der mit der Tötung des Minotaurus diesen Teil seiner Persönlichkeit von sich abspaltet und damit seiner Liebe entsagt. Für die Komposition hat Martinů, ähnlich wie Strawinsky bei THE RAKE'S PROGRESS, auf neobarocke und neoklassizistische Modelle und eine lyrische Klangsprache wie bei der italienischen Oper des 19. Jahrhunderts zurückgegriffen.
Seit Monteverdis ARIANNA von 1608 gehört der Stoff zu den häufigsten Quellen für Opernkompositionen: Händel, Massenet, Richard Strauss (ARIADNE AUF NAXOS), Darius Milhaud und in neuerer Zeit Alexander Goehr und Wolfgang Rihm (DREI FRAUEN, zur Zeit in Basel zu erleben) haben sich mit dem Mythos befasst.




 

Freitag, 20. November 2009

Zürich: IL CORSARO, 22.11.09





Copyright aller Fotos Suzanne Schwiertz


Oper in drei Akten
Musik: Giuseppe Verdi
Libretto : Francesco Maria Piave
Uraufführung: 25. Oktober 1848 in Triest
Schweizerische Erstaufführung
Aufführungen in Zürich: 22.11. | 24.11. | 26.11. | 28.11. | 1.12. | 3.12. | 6.12. | 29.12.2009 | 1.1.2010
Infos und Karten

Kritik:
Ein spektakuläres Bühnenbild, bravouröse sängerische Leistungen und eine bezwingende Konzeption des Regisseurs machen diesen CORSARO zu einem hinreissenden Opernabend, welcher restlos begeistert.
Lange - allzu lange - hat man in Zürich auf eine rundum geglückte Verdi-Premiere warten müssen. Nun ist sie endlich da - und dies ausgerechnet mit einem Werk, welches viele Kritiker lange Zeit als mittelmässig abgeschrieben hatten, von welchem sich selbst der Komponist distanziert zu haben schien.
Verdi und sein Librettist haben sich in der Gestaltung des Dramas auf kurze, prägnante Szenen fokussiert. Somit blieb kaum Raum für differenzierte Charakterzeichnungen oder psychologische Entwicklungen, wie er sie in seinen reiferen Werken so meisterhaft darstellen konnte. Dies wirkt sich erschwerend auf die Umsetzung auf einer Bühne aus. Regisseur Damiano Michieletto siedelt das abenteuerliche Geschehen auf dramaturgisch schlüssige Art und Weise im Kopf des Dichters Byron an. Die kurzen Szenen wirken deshalb wie Traumsequenzen eines sich in seine eigenen Schriften hineinversetzenden romantischen Dichters, werden in eine effektvolle, sensationell bildgewaltige Sprache übersetzt. Durch die gigantische, schräg gestellte Spiegelwand, das den Ozean - und damit Trennung, Sturm und Drang - symbolisierende, die gesamte Bühne einnehmende Wasserbecken (Bühne: Paolo Fantin), die einmal mehr überragende, geradezu phänomenale Lichtgestaltung (Martin Gebhardt) und die das romantische Zeitalter stilisierenden Kostüme (Carla Testi) erhält der Abend eine flackernde, irisierende Prägung, eine beinahe albtraumhafte Spannung. Die aufwändige Bühnentechnik funktioniert reibungs- und vor allem erstaunlich lautlos, ein Riesenkompliment an die Werkstätten!
Vittorio Grigolo ist dieser an Don Quijote erinnernde Antiheld Corrado, der edle Lord Byron, der sich in jedes Abenteuer stürzt, für das Gute zu kämpfen glaubt und dann doch an seiner eigenen Feigheit im Grossen (Mord) wie im Kleinen (Liebe und Gefühl) scheitert. Er tut dies mit unglaublicher, strahlender Stimmkraft, meidet auch hochdramatische Ausbrüche nicht (Verzweiflungsanfall in der Kerkerszene) und trotz aller stimmlichen Potenz findet der Tenor immer wieder zu tragfähigem, kultiviertem Pianogesang. Klasse!
Gegensätzlich angelegt und äusserst stimmig besetzt sind die beiden in ihn verliebten Sopranistinnen: Einerseits die still und demütig liebende und leidende Medora, welche von Elena Mosuc mit blitzsauberen Fiorituren und samtweichem Tonansatz gesungen wird. Allein schon ihre mit wunderbar zart aufblühender Stimme interpretierte Romanze im ersten Akt ist ein Juwel. Sie macht im Verlauf des Abends keine Wandlung durch, liegt bei ihren beiden Auftritten auf dem grossen Bett, welches wie eine stille, in sich ruhende Insel ohne Ruder durch das aufgewühlte Wasser getrieben wird.
Andererseits ist da die Sklavin Gulnara; sie wird von Carmen Giannattasio mit dramatischerer, dunkler timbrierter Stimme, fulminanten Spitzentönen und herrlich geläufiger Kehle mit grandiosem Aplomb ausgestattet. Bereits ihr erster Auftritt innerhalb der an plastifizierte Spielzeugpuppen erinnernden Harmesdamen ist atemberaubend. Als einziger Figur billigt ihr Verdi eine Entwicklung zu. Sie zeigt ergreifend die Schattierungen dieser Frauengestalt, vom sanft intonierten Selbsmitleid in ihrer Auftritts-Cavatine bis zur leidenschaftlich Liebenden, von der Mörderin an ihrem Unterdrücker Pascha Seid zur am Schluss grossherzig Verzichtenden - eine Lady Macbeth mit Herz, welche trotz des Blutes an ihren Händen - das auch sie nicht wegkriegt - alle Sympathien gewinnt.
Der Bösewicht dieses Albtraums ist Pascha Seid. Der grosse Bariton Juan Pons stellt ihn mit wunderbarer Phrasierungskunst und leicht metallisch gefärbter Stimme dar. Überzeugend auch die Idee des Regisseurs, ihn zwar die hohlen, von religiösem Eifer geprägten Phrasen singen zu lassen, dabei aber die materielle Gier als eigentliche Triebfeder für sein Handeln in den Vordergrund zu stellen. So wird die Bigotterie des Grossindustriellen, der im zwischenmenschlichen wie im politischen Bereich nur den eigenen Vorteil sucht, herausgestrichen.
Aus dem Orchestergraben erklingen neben vielen, für den früheren Verdi charakteristischen Stereotypien, immer wieder wahre Preziosen: Da eine zauberhafte Kantilene der Klarinette oder der Oboe, dort eine traurig schöne, von Bratsche und Cello gespielte Einleitung (zum Beispiel zur Kerkerszene).
Eivind Gullberg Jensen und das herrlich satt spielende Orchester der Oper Zürich sowie der Chor der Oper Zürich verstanden es, sowohl diesen zarten Zwischentönen als auch den schmetternden, mitreissenden Rhythmen den ihnen gebührenden Raum zu geben.
Nachtrag: Am 1. Dezember 2009 besuchte ich IL CORSARO nochmals. Begeisterung wiederum sehr gross, wenngleich bei der Koordination Bühne/Orchester ein paar Abstriche gemacht werden mussten. Elena Mosuc hingegen war in noch blendenderer Verfassung als am Premierenabend.
Fazit: Unbedingt hörens- und vor allem auch sehenswert!
Inhalt:
Corrado, ein Edler, der sich den Piraten angeschlossen hat, erfährt, dass die osmanische Flotte vor Griechenland geankert hat. Er beschliesst, mit seinen Getreuen gegen den muslimischen Anführer Pascha Seid zu kämpfen. Corrados Geliebte Medora versucht vergeblich, ihn zurückzuhalten.
Gulnara ist die Favoritin in Pascha Seids Harem, doch sie verabscheut ihn.
Corrado bittet als Derwisch verkleidet um Schutz bei Pascha Seid. Die Korsaren haben unterdessen Seids Flotte in Flammen gelegt, das Feuer droht auf den Harem überzugreifen. Der Spion wird erkannt. Im darauf folgenden Gemetzel rettet Corrado Gulnara aus dem Harem. Doch die Flucht misslingt, er wird gefangen genommen und zum Tode verurteilt. Gulnara fleht Seid vergebens um Gnade an.
Corrado sinniert über Medoras Unglück. Gulnara will ihm zur Flucht verhelfen, doch er weigert sich vorerst. Gulnara ersticht Pascha Seid. Nun flieht Corrado mit ihr.

Medora hat aus Verzweiflung über den vermeintlichen Tod Corrados Gift getrunken, um wenigstens im Tod mit ihm vereint zu sein. Da trifft das Schiff mit Corrado und Gulnara ein. Medora vermag noch Gulnara für die Rettung ihres Geliebten zu danken, dann stirbt sie in seinen Armen. Corrado stürzt sich von den Klippen ins Meer. Gulnara bricht zusammen.
Werk:
IL CORSARO gehört zu den am seltensten aufgeführten Opern Verdis, sie stammt aus seinen so genannten „Galeerenjahren“, als er aus finanziellen Gründen pro Saison mindestens eine Oper zur Uraufführung bringen musste. Aus verschiedenen Gründen zog sich die Komposition jedoch in die Länge und Verdi hatte sich wohl innerlich bereits von dem Werk mit dem romantischen, aber auch abstrusen, auf Lord Byrons Gedicht THE CORSAIR basierenden, Libretto distanziert. Jedenfalls reiste er nicht zur Uraufführung nach Triest, die dann auch prompt ein Misserfolg wurde. Das Werk wurde bis heute kaum szenisch aufgeführt. Musikalisch jedoch weist es einige sehr schöne und für den frühen Verdi typische Einfälle auf: Dramatische Chorpassagen, fulminante Finali, stimmungsvolle Streichersoli, welche z.B. die Kerkerszene einleiten.

Musikalische Höhepunkte:
Si, de corsari il fulmine, Arie mit Chor, Corrado, Akt I
Non so le tetre immagini, Romanze der Medora, Akt I
Vola talor dal carcere...Ah conforto, Cavatina der Gulnara, Akt II
Salve, Allah, Seid mit Chor, Akt II
Resta ancora, Finale Akt II
Eccola...fingasi..Sia l'istante maledetto, Duett Gulnara-Seid, Akt III
Eccomi prigioniero, Kerkerszene Corrado-Gulnara, Akt III 
Per me infelice, Terzett Medora, Corrado, Gulnara und Finale Akt III

Für oper-aktuell: © Kaspar Sannemann, 23. November 2009


 

Mittwoch, 11. November 2009

Zürich: Galaabend 175 Jahre Opernhaus (Actientheater), 10.11.2009


Am 10. November 1834, vor genau 175 Jahren, wurde das Zürcher Actientheater mit Mozarts ZAUBERFLÖTE eröffnet. Mutige Zürcher Bürger aus verschiedensten weltanschaulichen Richtungen hatten dieses Theater, das im ehemaligen Barfüsserkloster an den Unteren Zäunen seinen Platz gefunden hatte, im zwinglianischen Zürich ins Leben gerufen, ein Unterfangen nicht ohne Risiko. Bis heute - und das ist europaweit wohl einmalig - wird dieses Haus durch seine wechselvolle Geschichte hindurch von den Bürgerinnen und Bürgern dieser Stadt, dieses Kantons getragen, wird es an der Urne regelmässig unterstützt, so beim grossen Umbau (welcher auch zu den Opernhauskrawallen und damit im Nachhinein zur verstärkten Förderung der Alternativkultur führte) oder bei der Kantonalisierung. Deshalb ist die Gravur in der Fassade des Hauses Durch Bürgergunst geweiht der Kunst mehr als stimmig.
Zudem spielt das Haus - auch das im europäischen Vergleich einzigartig - ungefähr 45% seines jährlichen Budgets selbst ein, sei es an der Kasse oder durch Sponsoring. Heute steht das Haus zwar auf 1800 Pfählen am Seeufer (1890, nach dem Theaterbrand des alten Hauses in Rekordtempo aufgebaut), aber doch dank der Kantonalisierung auf ziemlich gesichertem finanziellem Fundament.
Der Zürcher Regierungsrat in corpore, ein Bundesrat und weitere mehr oder weniger Prominente füllten gestern Abend das Opernhaus anlässlich dieser Galavorstellung. Sämtliche Künstlerinnen und Künstler verzichteten auf die Gagen zugunsten der Nachwuchsförderung, welche in Zürich mit dem Internationalen Opernstudio, der Orcheterakademie und der Ballettakademie grosse Beachtung findet. Hausherr Alexander Pereira rechnet mit Einnahmen von rund SFR 300'000 an diesem Abend.
Viele Sängerinnen und Sänger, welche dem Opernhaus zum Teil seit Jahrzehnten treu verbunden sind, gaben sich die Ehre. Nach den Begrüssungsworten durch den Verwaltungsratspräsidenten Josef Estermann und der launigen, informativ-humorvollen Rede der Regierungsratspräsidenten Regine Aeppli begann der Abend musikalisch mit der Ouvertüre zu Mozarts NOZZE DI FIGARO - und mit dem Finale des 2. Aktes aus eben dieser Oper endete er dann auch - alle Beteiligten versammelten sich anschliessend noch auf der Bühne zum Feuerstrom der Reben aus der FLEDERMAUS.
Die eindrücklichsten musikalischen Erlebnisse waren Matti Salminens Auftritt mit dem grossen Monolog aus BORIS GODUNOW. Seit beinahe vier Jahrzehnten gehört der finnische Bass zum Zürcher Haus. Als Boris setzt er immer noch Massstäbe. Agnes Baltsa kam 1976 erstmals nach Zürich, geholt vom damaligen unvergessenen Intendanten Claus Helmut Drese. Die Baltsa und Neil Shicoff spielten und sangen beinahe den gesamten 4. Akt aus CARMEN, immer noch ist die Baltsa ein begeisterndes Bühnentier. Auch Shicoff zeigte sich an diesem Abend in stimmlich hervorragender Verfassung.
Ein anderer Zürcher Liebling, José Cura, durfte den Hit Nessun dorma aus TURANDOT in den Saal schmettern. Er tat dies mit dem Charme des Latin Lovers und seinen humoristischen Einlagen, welche allerdings nicht alle im Saal für angebracht hielten.
Jünger, aber mit ebensoviel Charme und unbeschwerter Freude am Singen dann der neue Stern am Tenorhimmel, Vittorio Grigolo: Er sang zwei Arien aus RIGOLETTO, das La donna è mobile mit kraftvollem hohem H, wenn auch etwas kurz gehalten für einen Galaabend.
Michael Volle begeisterte mit der so genannten Champagner-Arie aus DON GIOVANNI und im starken Zürcher Mozart Ensemble als Graf zusammen mit Judith Schmid (Cherubino), Ruben Drole (Figaro), Malin Hartelius (neben der Gräfin sang sie auch noch eine berührende Arie der Pamina) und Isabel Rey als quirliger Susanna. Frau Rey bot auch einen beschwingten Musetta Walzer aus Puccinis LA BOHÈME dar, obwohl sie dabei von Vladimir Fedoseyews Dirigat am Pult des - ansonsten gut aufspielenden Orchesters - etwas im Stich gelassen wurde. Weitere Lieblinge des Zürcher Publikums (Emily Magee, Elena Mosuc und Juan Pons) glänzten mit Szenen aus TOSCA und RIGOLETTO, der prächtig auftrumpfende Chor des Opernhauses mit Va, pensiero aus NABUCCO.
Vor der Pause folgte dann noch das Schlussbild aus dem Ballett RAYMONDA, ein Werk, das gegenwärtig auf dem Spielplan steht und das man nicht verpassen sollte.
Hausherr Alexander Pereira führte mit sympathischer Nervosität und selbstironisch kommentierten Patzern durch den über dreistündigen Abend.
Ein grosses Kompliment gebührt den GestalterInnen und AutorInnen der Festschrift. Zu Recht wird darin auf die zahlreichen Uraufführungen hingewiesen, welche in Zürich über die Bühne gingen. Und hier muss ich auch eine leise Kritik anfügen: Aus keinem dieser wichtigen Werke war an diesem Abend etwas zu hören, kein Sutermeister, kein Busoni, kein Alban Berg, kein Schönberg, kein Klebe, kein Hindemith, kein Holliger oder Kelterborn oder - aus jüngerer Zeit Rushton. Das ist ausserordentlich zu bedauern. Wird das Zürcher Publikum denn für dermassen beschränkt gehalten, dass man ihm anlässlich einer Gala nur Werke von Mozart bis Puccini zumuten kann? Und wenn ja, dann hätte sich wenigstens eine der in Zürich uraufgeführten Operetten von Stolz, Léhar, Oscar Straus oder Victor Reinshagen als Zückerchen angeboten ...
Nicht einmal die in den letzten Jahren so erfolgreich gepflegte Händel Renaissance erfuhr eine Würdigung. Falls sich keiner der Stars zu einer Szene aus einer Oper des 20. oder 21. Jahrhunderts hätte überreden lassen, wäre dies die Möglichkeit gewesen, jemanden aus dem Opernstudio damit zu betrauen. Diese Chance wurde leider vertan.

Für oper-aktuell: Kaspar Sannemann, 11. November 2009

Montag, 9. November 2009

Frankfurt a/M: DIE FRAU OHNE SCHATTEN, 7.11.2009





Kurzkritik:
Musikalisch kann man sich FRAU OHNE SCHATTEN heutzutage besser kaum vorstellen: Das beginnt bei der mit immenser Gestaltungskraft und grossartiger Mimik agierenden Caroline Whisnant als Färberin, setzt sich über die phänomenal singende, auch fortissimo Ausbrüche in den höchsten Lagen nicht scheuende Silvana Dussmann fort und kulminiert bei der textverständlich und ausdrucksstark singenden und sich nie in Sprechgesang oder hässliches Schreien flüchtenden Amme von Tanja Ariane Baumgartner. Nur schon diese drei grossartigen Frauenstimmen machen die Aufführung in Frankfurt zum Ereignis. Doch auch Michael König als Kaiser und Terje Stensvold als gutmütiger Barak brauchen sich hinter den Damen nicht zu verstecken. Die kleineren Rollen sind mit Christiane Karg (Hüter/Falke) und Johannes Martin Kränzle als Geisterbote ebenfalls überdurchschnittlich gut besetzt. Sebastian Weigle dirigierte eine Fassung, die beinahe ohne Striche auskam, was sehr begrüssenswert ist. Zwar vermochte er im ersten Akt einigen Koordinationsproblemen und verwackelten Einsätzen nicht zu entkommen, doch insgesamt spielte das Frankfurter Opern- und Museumsorchester ganz hervorragend auf. Sehr verdienstvoll von Seiten des Dirigenten war, dass er die Stimmen nie in den Klangfluten ertränkte, wie das leider oft geschieht. So blieb die Balance zwischen Graben und Bühne stets gewahrt, instrumentale Solopassagen leuchteten herrlich auf.
Christof Nels eindringliche Personenführung im kargen Betonbunker von Jens Kilian und den an Baby Jane erinnernden Kostümen von Ilse Welter schufen eine Welt der Einengung, der Bedrückung. Kaiserin und Färberin kamen sich so auch äusserlich immer näher, beiden war es verwehrt erwachsen und selbständig zu werden, sie blieben Kindfrauen. So ist dann das Ende auch kein glückliches. Die beiden Paare sind zwar zusammen, doch gefangen im Bunker. Der Blick der beiden Damen schweift sehnsuchtsvoll in die Ferne ...

Basel: AUS EINEM TOTENHAUS, 8.11.2009




Oper in drei Akten
Musik: Leoš Janáček
Libretto: vom Komponisten, nach Dostojewskis Dokumentarroman
Uraufführung: 12. April 1930 in Brünn
Aufführungen in Basel: 8.11. |10.11. | 14.11. | 22.11. | 30.11.2009 | 10.1. | 27.1. | 5.2. | 13.2. | 17.2. | 19.2.2010


Kritik:
Mit brutalem, gnadenlosen Realismus zeigt Regisseur Calixto Bieito die Hölle dieses Gefangenenlagers; ein Hölle, die sowohl durch den Umstand des Freiheitsentzugs als auch - frei nach Sartre - durch die Andern, die Mithäftlinge, den Kommandanten und seine Schergen entsteht und der keiner entfliehen kann. Die unerbittliche Ausweglosigkeit dieser unmenschlichen, von schreiender Ungerechtigkeit erfüllten, durch Menschen verursachten Situation, welche zu Tod, Mord, Wahnsinn, Korruption und sexuellem Missbrauch führt, wird in der Basler Neuinszenierung ungeschönt, aggressiv und direkt dargestellt. Bereits beim Fussballspiel im Gefängnishof, zu der vom Sinfonieorchester Basel so eindringlich gestalteten Ouvertüre, sind die kommenden Gefühlsschwankungen zwischen Freude, Wut, Verzweiflung und Aggression passend zu den unterschiedlichen musikalischen Motiven angelegt.
Für Emotionen oder Mitgefühl bleibt in diesem Lager, das überall stehen könnte, praktisch kein Platz, und wenn Gefühle dann doch einmal kurz aufschimmern, wie in der Zuwendung des politischen Häftlings Gorjantschikow zum von zwei Wachmännern vergewaltigten Alej, werden sie durch Todesschüsse gleich wieder zum endgültigen Verstummen gebracht. Wenn man dieser Inszenierung einen Vowurf machen könnte, dann den, dass jegliche Menschlichkeit gleich abgewürgt wird. Von den göttlichen Funken in jedem Menschen ist kaum etwas zu spüren, selbst der Appell des alten Sträflings „Auch ihn hat eine Mutter geboren“ verhallt ohne Echo. Selbst das Osterfest und die anschliessenden, von unterdrückten sexuellen Wünschen durchsetzten Pantomimen enden nach dem orgiastischen Tanz in Vergewaltigung und Massenhinrichtung.


Janáčeks sperrige letzte Oper erfährt in Basel eine Wiedergabe von allergrösster szenischer und vor allem auch musikalischer Intensität. Sämtliche Sänger (es sind nur Männer, auch die einzige weibliche Rolle, eine Dirne, wird in Basel von einem Mann dargestellt) verschreiben sich mit jeder Faser ihres Körpers und ihrer Stimme den geforderten Rollen, zeichnen ergreifende Psychogramme ihrer Figuren. Sie singen und spielen mit überwältigender Eindringlichkeit, bis zur Selbstentblössung: Rolf Romei als Skuratow, der immer mehr die Gestalt seiner geliebten Luisa annimmt, Claudio Otelli als Schischkow, der seinen langen Monolog zu einem grandiosen Moment des Abends werden lässt oder Eung Kwang Lee, der so ergreifend seine Hilflosigkeit zeigt, als sein Geliebter Alej (anrührend: Fabio Trümpy) blutüberströmt nach dem sexuellen Missbrauch durch die Schergen in seinen Armen liegt. Ludovit Ludha als Filka und KarlHeinz Brandt als Schapkin ergänzen überzeugend das Ensemble der Gefangenen. Auf der andern Seite agieren Andrew Murphy und Erlend Tvinnereim mit krasser, menschenverachtender Brutalität als Platzkommandant und Wache.
Die karge Bühne von Calixto Bieito und Philipp Berweger, mit dem Doppeldecker (anstelle des Adlers im Libretto) als Symbol der Hoffnung und der Freiheit und die durch Ingo Krügler so treffend entworfenen Bekleidungen tragen das ihrige zur stimmigen Umsetzung des Dramas bei. Sie unterstreichen damit gekonnt die Kargheit der Musik und fokussieren den Blick des Zuschauers auf die Abgründe und die Hölle, durch welche die Gefangenen gehen müssen.


Ein ganz besonderes Lob gebührt der Maskenbildnerei des Basler Theaters. Wie die Abgestumpftheit, die Aggression, die Wut und die psychischen und physischen Verletzungen in den Gesichtern der Gefangenen zu erkennen sind, zeugt von grösster Professionalität.
Das Sinfonieorchester Basel unter der einfühlsamen Leitung von Gabriel Feltz  evoziert die expressionistischen Klänge mal mit feiner, dann wieder kräftig herber Klangmalerei.

Fazit:
Janáčeks letzte Oper erfährt in Basel eine musikalische und szenische Wiedergabe, die niemanden unberührt zurücklehnen lässt - gnadenlos und hart, aber mit ergreifender Kraft.

Werk:
Leoš Janáček - neben Puccini und Richard Strauss der meistgespielte Komponist des vergangenen Jahrhunderts - schuf mit seiner letzten Oper zugleich eines der ungewöhnlichsten Werke des 20. Jahrhunderts. Als Vorlage diente dem Komponisten Dostojewskis autobiografisch gefärbter Roman, in welchem Dostojewski eigene Erlebnisse als Häftling im Gefängnis von Omsk verarbeitete. Leoš Janáčeks formte die Vorlage unter Verwendung von zum Teil wortgetreuen textlichen ?bernahmen in eine bewegende Oper ohne klar durchgehende Handlung um. Als Motto schrieb Janáček über seine Partitur: In jeder Kreatur ein Funke Gottes.
Die Ouvertüre war zuerst als Violinkonzert (mit dem Titel Wanderung einer Seele) konzipiert.
Die für Janáček so typischen, minimal gehaltenen Motive, die rhythmischen Ostinati und herb, aber transparent klingenden Akkordschichtungen und die reine Männerbesetzung verleihen dem quer zur Operntradition stehenden, schwer verdaulichen Werk eine Ausnahmestellung.

Inhalt:
Ort: Ein Strafgefangenenlager, z. B. in Sibirien
Den Rahmen der Oper bildet die Einlieferung des aus politischen Gründen verhafteten Gorjatschikow, der sich mit dem jungen Häftling Aljeja anfreundet, und seine überraschende Entlassung am Ende der Oper. Dazwischen erfährt man in längeren und kürzeren Monologen von Einzelschicksalen, Hoffnungen und Enttäuschungen der Mitgefangenen, erlebt die Brutalität, mit welcher die Aufseher die Häftlinge traktieren, nimmt an einem Osterfest und an einem Theaterspiel im Lager teil und begreift, warum einigen Insassen nur noch der Weg in den Wahnsinn bleibt. Ein brutal klingender Marsch ruft die Gefangenen am Ende der Oper wieder zur Arbeit und setzt einen unversöhnlichen Schlusspunkt.


Für oper-aktuell und art-tv: Kaspar Sannemann, 9. November 2009

Sonntag, 1. November 2009

Zürich: RAYMONDA, 31.10.2009


Ballett in drei Akten (in Zürich zwei Akte, vier Bilder)
Musik: Alexander Glasunow
Choreograph der Uraufführung: Marius Petipa
Uraufführung: 7. Januar 1898 in St. Petersburg
Aufführungen in Zürich:
31.10.| 1.11. | 7.11. | 8.11. | 14.11.| 15.11. | 25.11. 2009 | 10.3. | 14.3. | 18.6. 2010
Infos und Karten

Kritik:
Einmal mehr verzaubert Heinz Spoerlis Balletttruppe durch ihre Vielseitigkeit, ihre Perfektion und und ihre unglaubliche Musikalität. Eben noch begeisterten die Tänzerinnen und Tänzer mit Choreographien von Twyla Tharp und Hans van Manen, nun beweisen sie sich in einem der grossen Klassiker des spätromantischen Repertoires, Glasunows RAYMONDA.
Heinz Spoerli hat die Geschichte von den pantomimischen, heutzutage wahrscheinlich peinlich wirkenden Zutaten entschlackt. Er legt den Fokus überzeugend auf die Geschichte eines Teenagers, welcher durch die Entdeckung der Liebe und der Erotik quasi über Nacht zur jungen Frau reift. Die umjubelte junge Primaballerina Aliya Tanykpayeva ist Raymonda, sie ist dieser zu Beginn kichernde Backfisch, welcher am Ende des Abends Begehren und sexuelles Verlangen durch den Sarazenen Abderachman erfahren und dann doch (vorläufig …) in den starken Armen des Ritters Jean de Brienne Sicherheit gefunden hat. Von ätherischer Leichtigkeit durchflutet ist ihr erstes Solo, das Pizzicato, so wundervoll funkelnd begleitet von Harfe und Flöte. Hin- und hergerissen zwischen den beiden starken Männern zeigt sie sich im zweiten Bild, im grossen Adagio, einem Pas de trois, diesmal wunderbar einschmeichelnd begeitet von der Solovioline. Als ihr tänzerischer Höhepunkt und pièce de résistance dann gegen Ende des grandiosen Abends die von zarter Wehmut erfüllte 5. Variation, mit perfekter Fussarbeit brillant auf der Spitze getanzt. Das umstrittene Händklatschen wurde nur einmal leicht angedeutet. Diese junge Tänzerin hat begeistert und in Erstaunen versetzt. Es ist ein grosses Glück, sie im Zürcher Ballett erleben zu dürfen.

Stanislav Jermakov als Jean de Brienne war ihr ein sicherer Partner. Dadurch, dass Spoerli jedoch den Sarazenen Abderachman (Vahe Martirosyan) viel früher als gewohnt ins Spiel bringt und dessen Rolle aufwertet, muss Jermakov gegen die Virilität und die starke erotische Ausstrahlung des Sarazenen auf beinahe verlorenem Posten ankämpfen. Erst in seinem grossen Solo nach dem Pas hongrois kann er zeigen, dass seine Sprünge ebenso raumgreifend und kraftvoll sind wie jene von Vahe Martirosyan. Und doch versteht man, dass Raymonda von Abderachman, von dessen offen zur Schau gestellter Erotik, welche leicht in fordernde Brutalität kippen könnte, mehr und mehr angezogen wird. Da Abderachman beim Duell nur verwundet wird, bleibt offen, ob die Beziehung mit Jean eine von Dauer sein wird. Auch dadurch wirkt Spoerlis kluge Arbeit wieder sehr zeitgemäss. Aufgewertet hat Spoerli auch die Rollen der Freunde Raymondas. Kein Wunder angesichts der Tatsache, dass er zwei so erstklassige Tänzer wie Arsen Mehrabyan (Bernard) und Arman Grigoryan (Béranger) mit ihren ebenfalls hervorragenden Partnerinnen Vittoria Valerio (Clémence) und Galina Mihaylova (Henriette) zur Verfügung hat. Sarah-Jane Brodbeck verleiht der weissen Dame wunderbar das sie umgebende Geheimnisvolle, Schwebende. Die spannend, virtuos und abwechslungsreich choreographierten Walzerszenen und die mit selbstverständlicher Perfektion vom herausragenden Corps dargebotenen ungarischen Tänze und Galops sind weitere Höhepunkte dieses durch und durch stimmigen Abends. Unterstrichen wird die Handlung durch die in dezenten Farben gehaltenen Kostüme und das unaufdringliche, liebevolle Bühnenbild von Luisa Spinatelli.

Aber nicht nur was auf der Bühne abläuft ist Weltklasse. Ebenso grosse Aufmerksamkeit verdient das Orchester der Oper Zürich unter Michail Jurowski, der mit diesem Dirigat einen begeisternden Einstand in Zürich gibt. Wie der Dirigent mit der farbenreichen Musik mitlebt, ihr schwärmerisches, melancholisches und mitreissendes Potential herausarbeitet, die Kantilenen wunderbar warm fliessen lässt, seine Begeisterung direkt auf die in allen Instrumentengruppen herausragend spielenden MusikerInnen überträgt, ist einmalig. Hoffentlich wird diesem Maestro bald einmal die Einstudierung einer Oper in Zürich anvertraut.
Fazit:
Ein romantisches Handlungsballett in der meisterhaften Handschrift von Heinz Spoerli, hinreissend und mit überragender Virtuosität dargeboten vom Zürcher Ballett und phänomenal begleitet vom Orchester der Oper Zürich unter Michail Jurowski.
Inhalt:
Eine junge Frau (Raymonda) entdeckt die Liebe: Obwohl sie mit dem Ritter Jean de Brienne verlobt ist, fühlt sie sich während dessen kriegsbedingter Abwesenheit zum sarazenischen Fürsten Abderachman hingezogen. Traumwelt und reale Wunschvorstellungen vermischen sich. Eine geheimnisvolle „Weisse Dame“ bewirkt einen Zweikampf zwischen den beiden um Raymonda werbenden Männer. Der Sarazene wird dabei verwundet. Im Beisein des ungarischen Königs findet die prunkvolle Hochzeit zwischen Raymonda und Jean de Brienne statt.
Komponist und Werk:
Alexander Glasunow (1865 – 1936) war ein bedeutender russischer Symphoniker. Sehr bekannt ist auch sein Violinkonzert. Seine Kompositionen zeichnen sich durch souveräne Beherrschung der Kompositionstechnik und einen gewissen Hang zum Pathos aus.
RAYMONDA entstand in Zusammenarbeit mit dem grossen Choreographen Marius Petipa. Es steht ganz in der Tradition der grossen romantischen Handlungsballette Tschaikowskys. Die weit gehend sinfonisch gehaltene Partitur wird durch sarazenische und ungarische Charaktertänze aufgelockert. Die Titelrolle zählt zu den schwierigsten des klassischen Repertoires.
RAYMONDA war u.a. 1971/72 in Zürich zu sehen, mit Marcia Haydée und in der Choreographie von Rudolf Nueyev, der auch den Jean de Brienne tanzte, in einer der teuersten Ausstattungen (Nikolas Georgiadis) aller Zeiten für ein Ballett.
Für art-tv und oper-aktuell: © Kaspar Sannemann, 31.Oktober 2009